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Ein Beitrag von Weert Canzler

Mit dem Fahrrad auf einer geschützten Fahrspur auf einer direkt zum Ziel führenden Straße unterwegs sein, das war jahrelang ein Traum von urbanen Alltagsradlern. Mehr Platz und vor allem mehr sicheren Platz für das umweltfreundliche und zugleich gesundheitsfördernde Verkehrsmittel wird seit vielen Jahren auch von Verkehrsplaner*innen gefordert. Neidvoll wird auf Kopenhagen und die niederländischen Vorreiterstädte Amsterdam, Groningen und Utrecht verwiesen. In jüngster Zeit machen Paris, Valencia, London und sogar Bogotá Furore, niemand hätte erwartet, dass diese Städte den Radverkehr zur Trumpfkarte im interurbanen Standortwettbewerb machen würden. In Deutschland aber wird um jeden Quadratmeter gekämpft, der für einen geschützten Radweg umgewidmet werden soll.

Sobald Autofahrspuren reduziert werden oder Parkplätze verschwinden sollen, ist meistens Schluss mit der Radwegeplanung. Die Angst vor den möglichen Reaktionen aufgebrachter Autofahrer – und immer auch Autofahrerinnen – ist bei vielen Kommunalpolitiker*innen und in vielen Verwaltungen groß. Diese Angst ist durchaus begründet, denn die Proteste sind tatsächlich oft laut und die protestierenden Privatautomobilisten ruhen sich nicht nur auf Gewohnheitsrecht aus. Sie können sich auch formalrechtlich auf der richtigen Seite wähnen, denn das Verkehrsrecht insgesamt und die Straßenverkehrsordnung (StVO) im Besonderen hat den „fließenden Verkehr“ zum alles dominierenden Ziel erklärt. Seit Mitte der 1950er-Jahre ist damit der Autoverkehr gemeint, ein größeres Privileg ist kaum vorstellbar. Nach StVO darf zum Beispiel eine – den Autoverkehr benachteiligende – Fahrradstraße erst dann eingerichtet werden, wenn das Fahrrad bereits das vorherrschende Verkehrsmittel ist.

Doch in der Corona-Krise ist alles anders. Social Distancing, präziser eigentlich: Physical Distancing macht es möglich. Temporäre Infrastrukturen entstehen. Weltweit werden Straßen für Autos gesperrt, Flaniermeilen für Zufußgehende eingerichtet und phantasievoll abgetrennte Fahrradspuren angelegt. Bogotá war der Pionier beim Umetikettieren von Autospuren zu Radspuren, Philadelphia und Wien haben schnell nachgezogen. Auch in deutschen Städten gibt es von einem Tag auf den anderen sogenannte „pop-up bikelanes“, auf denen genug Platz zum Radeln unter Wahrung der Abstandsregeln möglich ist. In Berlin beispielsweise wird die direkte Verbindung von Kreuzberg in die City West auf einer mit Baustellenpollern abgetrennten eigenen Radfahrspur ermöglicht.

Das Ergebnis der Umwertung und Umwidmung der Verkehrsflächen ist aus verkehrswissenschaftlicher Sicht wenig überraschend. Sie folgt einem bekannten Muster: Jede Verkehrsinfrastruktur induziert ihre Nachfrage. Wer Radverkehrsinfrastruktur sät, erntet Radverkehr. Das gilt auch für das Zufußgehen: Wo es angenehm, ruhig und auf direktem Wege möglich ist, wird auch viel zu Fuß gegangen. Die Erfahrungen mit der Umwidmung des öffentlichen Straßenraums zeigen zudem: Es geht viel mehr als oft behauptet, es geht schneller als gedacht, die Effekte sind sofort sichtbar und erhöhen die Aufenthalts- und Lebensqualität. Das gilt in und nach der Corona-Krise. Offensichtlich ist, dass es keine Rechtfertigung für das Platzprivileg des Autos gibt, außer dass es politisch seit Jahrzehnten so gewollt war. Klar ist aber auch, dass diese temporären Erfolge nur dann auf Dauer gestellt werden können, wenn der regulative Rahmen geändert wird. Das auf das Auto und seine Förderung fixierte Verkehrsrecht braucht eine Generalüberholung und die StVO muss zur Verkehrswendeverordnung werden, in der die Privilegien für das private Auto abgeschafft und der nötige Platz für seine Alternativen gesichert werden.

Bild: © CleverShuttle

Ride-Pooling-Dienste können einen Beitrag zur Verkehrswende in Städten leisten

Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung gGmbH

Berlin, 16.04.2020. Ride-Pooling-Dienste, die in einigen deutschen Städten auf einer digitalen Plattform Fahrten für mehrere Gäste anbieten, werden zu einem großen Teil von jungen Menschen als „Tür-zu-Tür“-Ergänzung zu Bus und Bahn genutzt. Knapp die Hälfte der Nutzenden mit einem Pkw im Haushalt könnte sich vorstellen, zukünftig auf das eigene Auto zu verzichten. Das sind die Ergebnisse einer Studie, die Forschende des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung (WZB) erstmals auf Basis von Daten eines Anbieters ermitteln konnten. Andreas Knie und Lisa Ruhrort vom WZB fordern, die strengen gesetzlichen Auflagen für diese Dienste zu lockern, damit sie einen stärkeren Beitrag zur Verkehrswende leisten können.

In Deutschland wird intensiv über neue Verkehrsangebote auf digitalen Plattformen wie CleverShuttle, BerlKönig oder Moia diskutiert. Helfen diese sogenannten Ride-Pooling-Dienste, bei denen sich Kund*innen Fahrten mit anderen Menschen teilen, die Zahl der Fahrzeuge und die damit gefahrenen Kilometer und die ausgestoßene Menge an Schadstoffen in den Städten zu reduzieren? Wie werden die Dienste von den Menschen im Vergleich zu anderen Verkehrsmitteln angenommen? Das Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB) bekam als erste öffentliche Forschungseinrichtung Zugang zu Fahrgastdaten eines Anbieters (CleverShuttle) und konnte diese in vier deutschen Großstädten für ein Jahr analysieren. Darüber hinaus befragten die Forschenden über 3.500 Kund*innen des Dienstes zu ihren Fahrgewohnheiten und zur Bewertung des Angebots.

Die Fahrzeuge von CleverShuttle beförderten im Jahr 2019 mehr als 1,8 Millionen Menschen in Berlin, München, Leipzig und Dresden. Anders als bei Fahrten mit dem Taxi oder dem kalifornischen Unternehmen Uber werden bei CleverShuttle bei ungefähr der Hälfte der Fahrten weitere Fahrgäste hinzugebucht, die sich ein Auto teilen. In den Nachtstunden steigt der durchschnittliche Anteil der geteilten Fahrten auf bis zu 65 Prozent.

Andreas Knie und Lisa Ruhrort ermittelten in der Studie, dass rund die Hälfe der Nutzenden von CleverShuttle zwischen 20 und 34 Jahre alt ist und den Dienst mehrmals im Monat bucht. Mehr als 30 Prozent aller Kund*innen besitzen gar keinen Führerschein und 35 Prozent haben keinen Zugriff auf ein privates Fahrzeug. Die Mehrzahl aller Fahrten (ca. 60 Prozent) dient Freizeitzwecken, rund 25 Prozent sind Fahrten zur Arbeit oder haben einen geschäftlichen Anlass. Als Vorteile nennt knapp die Hälfte der Nutzenden den niedrigen Preis und den „Tür zu Tür“-Service. Dass der Transport oft mit anderen Menschen geteilt werden muss, finden knapp 60 Prozent der Befragten „positiv“ oder sogar „sehr positiv“. Ebenfalls die Hälfte der befragten Kund*innen gab an, dass sie Busse und Bahnen genutzt hätten, gäbe es nicht das Angebot des Ride-Poolings. Ca. 10 Prozent hätten statt CleverShuttle den privaten PKW genutzt. Immerhin eine von zehn Fahrten mit dem Anbieter ersetzt also bereits eine Fahrt mit dem eigenen Auto, obwohl die Zahl der Fahrzeuge durch behördliche Auflagen immer noch eng begrenzt ist. Perspektivisch können sich rund 45 Prozent der Befragten mit PKW im Haushalt vorstellen, dass CleverShuttle das eigene Auto ersetzen könnte. „Das Potenzial der Ride-Pooling-Dienste für die Verkehrswende liegt insbesondere darin, dass sie den öffentlichen Verkehr durch einen Tür-zu-Tür-Baustein ergänzen, selbst wenn sie einige Fahrten mit dem ÖPNV ersetzen“, sagt Andreas Knie. Lisa Ruhrort, Co-Autorin der Studie, ergänzt: „Kunden haben durch Ride-Pooling-Dienste mehr Freiheit bei der Wahl der Verkehrsmittel, und es wird insgesamt attraktiver, in der Stadt ohne eigenen PKW zu leben und mobil zu sein.“

Das Forscherteam des WZB empfiehlt, die gesetzlichen Voraussetzungen für Ride-Pooling-Dienste zu lockern. Sie sollen zudem von den Kommunen koordiniert werden. Bislang sind die Angebote nur als Ausnahmen mit starken Beschränkungen zugelassen. Die Dienste benötigen nach Ansicht der Forschenden zudem eine wesentlich höhere Flottenzahl, um die gewünschten Flächen in den Städten angemessen bedienen zu können. Dabei könnten Ride-Pooling-Dienste regulatorisch klar von herkömmlichen Taxis getrennt werden: Zwar zahlen die Kunden maximal zwei Drittel des vergleichbaren Taxifahrpreises, dafür müssen sie aber in der Regel die Fahrt mit anderen Fahrgästen teilen und Umwege in Kauf nehmen. Eine wesentliche Einschränkung für den Dienst ist zudem die vorgeschriebene Rückkehrpflicht: Nach jedem ausgeführten Auftrag müssen die Fahrzeuge wieder zurück in den Betriebssitz, was zu längeren Anfahrts- und Rückkehrwegen ohne Fahrgäste führt. Um Ride-Pooling-Dienste zu unterstützen, so Andreas Knie und Lisa Ruhrort, sollten diese, unter der Maßgabe, dass sie Fahrten mehrerer Fahrgäste bündeln, von der Rückkehrpflicht befreit werden.

Die Studie „Ride-Pooling-Dienste und ihre Bedeutung für den Verkehr. Nachfragemuster und Nutzungsmotive am Beispiel von ‚CleverShuttle‘“ ist als WZB Discussion Paper erschienen.

https://bibliothek.wzb.eu/pdf/2020/iii20-601.pdf

Pressekontakt

Prof. Dr. Andreas Knie
Leiter der Forschungsgruppe Digitale Mobilität und gesellschaftliche Differenzierung https://wzb.eu/de/forschung/digitalisierung-und-gesellschaftlicher-wandel/digitale-mobilitaet (DIMO)
andreas.knie@wzb.eu

Dr. Lisa Ruhrort
Wissenschaftliche Mitarbeiterin der Forschungsgruppe DIMO
lisa.ruhrort@wzb.eu

Dr. Harald Wilkoszewski
Leiter Kommunikation und Pressesprecher
Tel.: 030/25491-509
harald.wilkoszewski@wzb.eu

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