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Gemeinsame Stellungnahme zu Kaufprämien für PKW

Berlin und München, Mai 2020. Die Coronakrise hat der deutschen Wirtschaft enorm den Wind aus den Segeln genommen. Stillstand halten hochindustrialisierte Systeme nicht lange aus. Eine gezielte Wirtschaftsförderung kann und muss helfen, damit Menschen weiter Arbeit haben und soziale und wirtschaftliche Systeme nicht noch größeren Schaden erleiden. Die Förderung der mobilitätsrelevanten Industrie ist hier ein guter Ansatz: Ausgaben können schnell und unbürokratisch getätigt werden und sind unmittelbar wirksam.

All das macht jedoch nur Sinn, wenn mit den Investitionen zukunftsfähige Arbeitsplätze erhalten oder geschaffen werden. Genau hier liegt die Chance der Krise: Ohnehin nicht mehr zeitgemäße Strukturen verschwinden schneller von der Bildfläche; zukunftsweisende Entwicklungen können entschlossener gefördert werden. Zusammengefasst muss also die Frage beantwortet werden: Wie schaffen wir mit einem Konjunkturprogramm für die mobilitätsrelevante Industrie jetzt ökonomische Wirkung, die unmittelbar attraktiv, nachhaltig effektiv und sozial und ökologisch wünschenswert ist?

Der in einigen Kreisen angedachte Vorschlag, den Kauf nahezu aller aktuellen Automobilmodelle zu fördern, kann keine sinnvolle Antwort auf diese Frage sein. Die ökonomische Wirkung wäre nur kurzfristig verlagert, die positive Verstärkung eines „Weiter so“ fatal für die ohnehin im Sinne der Zukunft der Mobilität innovationsschwache Automobilbranche und somit endgültig verhängnisvoll für die Zukunft des Standorts Deutschland. Und die Schäden an Klima und Umwelt und die Beeinträchtigung der urbanen Lebensqualität stoßen schon seit einiger Zeit auf immer größeren Widerstand.

Der hier skizzierte Vorschlag fordert daher, bei der Entwicklung dieses Konjunkturprogramms von zentralen Bausteinen einer wünschenswerten Mobilität der Zukunft auszugehen. Je nach Zielsetzung und Adressaten ergibt sich hieraus eine riesige Bandbreite an Möglichkeiten – die alle besser sind als die oben genannten Autokaufprämien:

  • Mit einem Mobilitätsbudget soll die Entwicklung kreativer Zukunftslösungen gefördert werden. Beispiele sind innovative Mikrofahrzeuge, Plattformen und autonome Lieferdienste, Design grüner Mobilitätsinfrastruktur in Kommunen und die Weiterentwicklung von Autohäusern zu Mobilitätshäusern und von Flughäfen zu Zentren für globales Lernen und globale Kultur.
  • Zur Verkehrsvermeidung soll der Ausbau der digitalen Infrastruktur gefördert werden, um Heimarbeit effektiver zu ermöglichen und Dienstreisen reduzieren zu können.
  • Kaufanreize sollen bei Fahrrädern, Lastenfahrrädern und E-Bikes, kleinen PKW mit alternativen Antrieben und umweltfreundlichen Bussen gesetzt werden.
  • Statt veralteter Fahrzeug-Großindustrie sollen KMU, Startup- und Einzelunternehmen gefördert werden, die innovative und nachhaltige Produkte aus dem gesamten Spektrum der Mobilität herstellen und vertreiben.
  • Bürger*innen sollen ein experimentelles Mobilitätsbudget erhalten, um alternative Mobilitätslösungen wie Sharing, E-Bikes oder Kleinstfahrzeuge auszuprobieren oder den ÖV zu nutzen.
  • Für Kommunen soll ein Innovationswettbewerb um zukunftsfähiges Infrastrukturdesign ausgelobt werden, z.B. eine Abwrackprämie für marode Bürgersteige und Radwege gezahlt werden.
  • Bahnhöfe sollen für eine bessere Erreichbarkeit dabei unterstützt werden, neue Schnittstellen zum Fahrradverkehr zu entwickeln.

Natürlich übersteigt die Summe der Vorschläge die finanziellen Möglichkeiten eines Konjunkturprogramms erheblich. Die Unterzeichner*innen wollen jedoch die Bandbreite der attraktiven Möglichkeiten aufzeigen. Wir fordern von der Politik, dass das Geld der Steuerzahler*innen sinnvoll eingesetzt wird, zum langfristigen Wohl von Gesellschaft und Wirtschaft. Deutschland soll die Chance nutzen, die die Krise bietet!

PDF-Download: Stellungnahme Verkehrtwende

Kontakt
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Das Verkehrswendebüro ist eine Initiative einer Allianz aus Verbänden und Einrichtungen, die in den vergangenen Jahren großräumige Schaufensterprojekte und Modellvorheben verantwortet haben und die sich mit der Wissenschaft für die Verkehrswende engagieren.
Das Verkehrswendebüro hat seinen Sitz bei der Forschungsgruppe Digitale Mobilität am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB) und wird in seiner Projektarbeit unter anderem von der Deutschen Bundesstiftung Umwelt (DBU) gefördert.

Die Innovationsmanufaktur GmbH arbeitet seit dem Jahr 2000 an privatwirtschaftlichen, öffentlich geförderten und selbst initiierten Projekten zur systematischen Entwicklung von Innovationen in den Kernbereichen Mobilität, Sport und Gesundheitsförderung. Kernkompetenz sind die eigene, in der Praxis erprobte und immer wieder verbesserte Methodik der Holistischen Innovation, die Innovation von Mensch und Gesellschaft her denkt, und der Aufbau und die Moderation von Innovationsnetzwerken.

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Eine der wenigen positiven Auswirkungen der Corona-Pandemie sieht man beim Blick aus dem Fenster: Die Straßen sind sichtlich leerer. Der Autoverkehr ist laut dem Institut der deutschen Wirtschaft seit März um 53,8 Prozent zurückgegangen, der Lkw-Verkehr um 26 Prozent.

Temporärer Radweg in Dortmund
Diese neue Situation sehen viele Experten als Chance, Verkehrskonzepte schneller umzusetzen. So ging in Dortmund ein Brief bei Oberbürgermeister Ulrich Sierau ein. Abgeschickt von zwölf Organisationen, darunter BUND, ADFC, Greenpeace, dem Bund Deutscher Architekten oder dem Seniorenbeirat der Stadt. Die Forderung: Der Straßenraum soll besser verteilt werden und mehr Platz für Radfahrer und Fußgänger bieten.

Wie das gehen soll? Dafür wird am Dienstag (19.05.2020) der rechte Fahrstreifen des Heiligen Wegs, einer Ausfallstraße im Osten der Innenstadt, abgesperrt und eine Stunde lang als Radweg genutzt. Ein Pilotprojekt, das einfach umzusetzen ist und Schule machen soll. In ihrem offenen Brief erwähnen die Organisatoren ähnliche Projekte in New York und Brüssel und fordern: „Dortmund kann das auch!“

Abstandsregeln auf Gehwegen schwer einzuhalten
Auch in Köln hoffen viele Menschen auf Rückenwind für die Verkehrswende. Da auf vielen Gehwegen die Corona-Abstandsregeln schwer einzuhalten sind, wird im Stadtteil Ehrenfeld temporär mehr Radverkehr auf die Straßen verlagert. Außerdem sollen zusätzliche Fahrradständer aufgebaut werden, um mehr Platz auf den Gehwegen zu schaffen.

Verkehrswende auch in Kleinstädten nötig
Neue Wege bei der Verkehrspolitik will man in Drolshagen bei Olpe gehen. Denn die Probleme der Großstädte gibt es auch hier: Lärm, Umweltbelastungen, Parkplatzknappheit. „Hier hat gefühlt jeder Haushalt zwei bis drei Autos“, sagt der Bürgermeister Ulrich Berghof. „Auch wir brauchen die Verkehrswende.“ Die Zeit dafür scheint günstig: In der 12.000-Einwohner-Stadt ist der Verkehr wegen Corona deutlich gesunken. Zudem ist Drolshagen zur Modellkommune für die Verkehrswende erklärt worden. Einen selbstfahrenden Bus gibt es dort schon, die Stadverwaltung nutzt Carsharing, weitere Konzepte werden erarbeitet.

Homeoffice könnte dauerhaft den Pendelverkehr reduzieren
Am Ende laufen aber alle Ideen auf ein Verteilungsproblem hinaus: Der Platz auf der Straße ist begrenzt, jede zusätzliche Radspur geht auf Kosten der Autofahrer. Und auch wenn Verkehrsforscher wie der Soziologe Andreas Knie eine deutliche „Pro-Fahrrad-Stimmung“ in den Städten wahrnehmen: Die Zahl der Autoneuzulassungen bleibt stabil. Ob sich das wegen Corona ändert? Zumindest die Pendlerzahlen dürften dauerhaft sinken. Wissenschaftler gehen davon aus, dass der Berufsverkehr auch nach dem Ende der Pandemie um 20 Prozent geringer ausfällt. Dem Homeoffice sei Dank.

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Eine Initiative des Verkehrswendebüros

Shutdown allerorten. Die Bilder der Militärlastfahrzeuge in den norditalienischen Städten hat die Dramatik der Lage auf grausame Weise verdeutlicht. Zur Bekämpfung der Covid 19-Pandemie hat auch Deutschland das öffentliche Leben runtergefahren. Betroffen ist davon ganz besonders der Verkehrssektor. Autohersteller und Zulieferindustrie, Touristikunternehmen, Airlines und Flughafenbetreiber verhandeln mit der Bundesregierung bereits über milliardenschwere Hilfsprogramme. Ziel ist die Abmilderung der wirtschaftlichen Auswirkungen, um die Branche zu retten. Die Vergangenheit wird also längst schon wieder in die Zukunft verlängert.

Die Krise trifft auch Kommunen mit großer Härte. Gewohnte Leistungen der Daseinsvorsorge im Verkehr sind gefährdet. Es droht ein Milliardenloch bei der Finanzierung des öffentlichen Nahverkehrs. Die Taxi-, Mietwagen- und Carsharingbetreiber melden hohe Verluste, die Vielfalt der Angebote ist gefährdet.

Auf der anderen Seite erleben Bürger*innen ihr Wohnumfeld, ihre Stadt, ihre Gemeinde ganz neu. Der Rückgang des Autoverkehrs führt zu besserer Luftqualität, weniger Lärm und neuen Freiräumen. Die drastische Verkehrsreduzierung schafft Perspektiven für die Fortsetzung der Verkehrswende. Der Weg aus dem Shutdown kann dazu genutzt werden, die Kernelemente eines zukünftigen Verkehrs zu definieren, der die Beweglichkeit der Menschen wiederherstellt, Arbeitsplätze sichert, neue schafft und dies alles in einer nachhaltigen Weise.

Auswege aus der Krise

Shutdown heißt auch Routinebruch. Es gilt jetzt zu handeln – für eine tiefgreifende Modernisierung des Verkehrssystems und der Verkehrsmittel. Die Anzahl der Pkw kann reduziert und der Antrieb auf Elektromotoren umgestellt werden. Durch die Verwendung von Fahrstrom aus regenerativen Energiequellen bieten sich gute Möglichkeiten der Verbindung der Verkehrs- und Energiewende. Die Verbesserung der Luftqualität und der Lärmbelastung steigert die Lebensqualität. Den Alternativen zum privaten Autobesitz kann deutlich mehr Raum gegeben werden. Dazu braucht es mehr Platz für den Fuß- und Radverkehr und ein besseres Angebot im ÖPNV, der als integriertes Tür-zu-Tür-Angebot an jedem Ort und zu jeder Zeit auf digitalen Plattformen attraktiver wird.

Kommunen sind die Game Changer, die Pioniere der Verkehrswende. Sie können spürbare wirtschaftliche Impulse setzen und auf lokaler Ebene die Rahmenbedingungen für den Mobilitätssektor zukunftsfähig ausrichten. Sie brauchen dazu aber politische Unterstützung, finanzielle Ausstattung und erweiterte Befugnisse.

Wir schlagen ein eigenes Reset-Programm der Verkehrswende durch den Bund vor, auf das sich die Kommunen bewerben können. Ziel des Programms ist es, die bereits geplanten und begonnenen Maßnahmen zur Bekämpfung der Klimakrise unter den neuen Umständen zu beschleunigen und damit nachhaltig Arbeitsplätze in der Verkehrsbranche zu sichern. Das Programm soll folgende vier Handlungskonzepte haben:

Energie- und Verkehrswende in den Kommunen verbinden
Die Kommunen werden bei der Umstellung von Fuhrparks und beim Ausbau von Ladeinfrastruktur für Elektrofahrzeuge auf öffentlichen und privaten Flächen unterstützt. Der Aufbau von Ladeinfrastruktur für Elektrofahrzeuge wird auch durch den Aufbau von Mobility-Hubs auf öffentlichen und privaten Flächen ergänzt, die idealerweise auch Solarstrom vor Ort erzeugen. Die Hubs sind multimodale Ankerpunkte für alle flexiblen und elektrifizierten Sharing- und Pool-Fahrzeuge und sollten für einen guten Umstieg direkt an wichtigen Haltestellen des ÖV liegen. Zur beschleunigten Umsetzung werden ebenso Planung, Errichtung und Betrieb standardisiert.

Bestandssicherung und Erneuerung des Öffentlichen Verkehrs (ÖV)
Der ÖV ist durch den Einbruch der Fahrgastzahlen und den drastischen Rückgang der Ticketeinnahmen als Teil der kommunalen Daseinsvorsorge existenziell bedroht. Zur Aufrechterhaltung der Grundversorgung der Bevölkerung mit öffentlichem Verkehrsangeboten soll ein Schutzschirm aufgespannt werden, der die ÖV-Unternehmen strukturell und finanziell absichert. Gleichzeitig müssen die Kommunen bei Programmen unterstützt werden, um die ÖV-Angebote qualitativ weiter zu entwickeln. Hierzu sollen auch digitale Plattformangebote, die den öffentlichen Verkehr um ein Tür-zu-Tür-Bedienelement erweitern und vom Aufgabenträger koordiniert werden, Betriebszuschüsse erhalten.

Neugestaltung des öffentlichen Verkehrsraums
Viele Kommunen sind bereits dabei, die innerstädtischen Verkehrsflächen neu aufzuteilen. Gemeinden, die privaten Fahrzeugen öffentliche Flächen entziehen und diese für den Fußgänger- und Fahrradverkehr sowie für Aufenthaltsräume verfügbar machen, sollen durch Prämienzahlungen finanzielle Unterstützungen erhalten. Bestehende Pläne für Radschnellwege müssen sowohl finanziell – vor allem mit der Übernahme kommunaler Eigenanteile – abgesichert als auch in der Ausführung beschleunigt werden. Instrumente dafür sind ein Sicherungsfonds und eine zentrale Anlaufstelle für Hilfen bei Ausschreibungsverfahren und Bauüberwachung.

Errichtung von regulatorischen Experimentierräumen
Kommunen können einen Experimentierraum beantragen, der unter Maßgabe eines definierten Zweckes, der Beteiligung der Anwohner*innen sowie einer konstitutiven Evaluation rechtssicher ermöglicht wird. Ziel ist es, durch die Nutzung von Experimentierklauseln und Ausnahmebestimmungen die Ergebnisse von vielen Projekten und Laborvorhaben endlich umzusetzen und die Verwaltungsvorgänge zu beschleunigen und innovationshemmende Regeln insbesondere in der Baunutzungsverordnung, in der Straßenverkehrsordnung sowie im Personenbeförderungsgesetz temporär und räumlich begrenzt außer Kraft zu setzen.

Mit dieser Kombination aus finanziellen Absicherungen, Planungsunterstützung und neuen Gestaltungsräumen können die Kommunen die Krise als Chance für eine nachhaltige Verkehrslandschaft nutzen. Hierbei gilt es, bereits gemachte Erfahrungen und Ergebnisse vergangener Projekte zügig umzusetzen und auch in experimenteller Weise auszuprobieren.

Prof. Dr. Andreas Knie Leiter Verkehrswendebüro am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung

Für den Beirat:
Raimund Nowak Geschäftsführer Metropolregion Hannover Braunschweig Göttingen Wolfsburg
Kurt Sigl Präsident Bundesverband eMobilität
Thomic Ruschmeyer Vorsitzender Bundesverband Solare Mobilität
Dr. Wolfgang Fischer Leiter Projekt- und Clusteraktivitäten Landesagentur für neue Mobilitätslösungen und Automotive Baden-Württemberg
Gernot Lobenberg Leiter Berliner Agentur für Elektromobilität eMO
Peter Lindlahr Geschäftsführer HySolutions GmbH, Innovative Antriebe für Hamburg
Hermann Horster Vizepräsident DGNB Deutsche Gesellschaft für Nachhaltiges Bauen

Pressemitteilung als PDF

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Ein Beitrag von Andreas Knie

Wie gehen wir mit Risiken um? Abwägung ist die Kunst der Stunde. Doch dies geschieht in unserer Gesellschaft auf höchst unterschiedliche Weise. Kein Politiker traut sich dieser Tage, etwas gegen die Warnungen der Virologen und Epidemiologen zu sagen oder gar durchzusetzen. Ob Ausgangssperren, Schulschließungen, Verbot von Kultur- und Sportveranstaltungen oder die Frage, wann Spielplätze wieder geöffnet werden können: Hinter diesen politischen Entscheidungen stehen die Aussagen der Virologen. Auch wir, die Normalbürger*innen, fügen uns und haben die Kontaktsperren und Abstandsmahnungen, das Händewaschen und Maskentragen schon fest im Alltag eingebaut. Weil wir und die Politiker*innen den Experten vertrauen, konnte die Zahl der Infizierten, Schwerstkranken und der Toten in Deutschland bisher eingedämmt werden. Die Gesellschaft ist offensichtlich zu ungeheuren finanziellen Opfern und Einschränkungen von Grundrechten bereit, um weitere Todesfälle zu vermeiden.

In anderen Politikfeldern sieht der Umgang mit Risiken und das Vertrauen auf Expertenmeinungen dagegen ganz anders aus: Im Straßenverkehr starben 2019 alleine in Deutschland mehr als 3.000 Menschen direkt an den Folgen eines Verkehrsunfalls; knapp 400.000 wurden verletzt. Zwar konnte die Zahl der Verkehrstoten, die Mitte der 1960er-Jahre noch bei über 20.000 lag, in den letzten Jahrzehnten durch Geschwindigkeitsbegrenzungen innerorts und auf Landstraßen, durch Gurtpflicht und die Absenkung der Promillegrenze deutlich gesenkt – aber eben nicht auf null gebracht werden. Wer sich in den Straßenverkehr begibt, geht immer das Risiko ein, getötet zu werden – auch ohne eigene Schuld und bei aller Regelkonformität.

Jenseits von politischen Maßnahmen gibt es keinen Wunder wirkenden „Impfstoff“ gegen den Tod im Straßenverkehr. Wir haben uns an das Risiko gewöhnt; es ist Teil einer stillschweigend akzeptierten Praxis geworden. Offenkundig sind wir als Gesellschaft bereit, für die Verteidigung unserer Bewegungsfreiheit Jahr für Jahr 3.000 Menschen – das entspricht der Einwohnerzahl einer kleinen Stadt – sterben zu lassen und eine weitere Zahl von Menschen in der Größenordnung einer Großstadt teils schwere Verletzungen erleiden zu lassen. Diese Form der Bewegungsfreiheit wird immer wieder und ganz offensiv verteidigt; die Unfälle im Unterschied zu den Covid-19-Todesfällen werden als Einzelfälle und nicht als Großereignis wahrgenommen. Die Statistiken tauchen nicht täglich in den Medien auf, sondern nur maximal einmal im Jahr.

Dabei könnte die Zahl der Unfalltoten und Schwerverletzten deutlich gesenkt werden, wenn auch in diesem Fall den Experten vertraut würde und der politische Wille zur Umsetzung vorhanden wäre. Doch was in der Corona-Krise so gut funktioniert, klappt bei der Verkehrspolitik überhaupt nicht. Denn das würde bedeuten, endlich den Unfallexperten Gehör zu schenken und ein flächendeckendes Tempolimit von 30 km/h in der Stadt, von 80 km/h auf Landstraßen und von 130 km/h auf den Autobahnen einzuführen. Letzteres hat der Deutsche Bundestag im letzten Herbst noch mit großer Mehrheit abgelehnt, obwohl Deutschland der einzige demokratische Staat der Welt ohne Tempolimit ist. Offensichtlich ist sich hier unsere Gesellschaft einig, dass die freie Fahrt in diesem Fall Tote und Verletzte kosten darf. Dabei wäre, folgte man der Logik des in der Corona-Krise weithin akzeptierten Wunsches, die Kurve der Todesfälle abzuflachen, eine Verschärfung der Tempolimits auf den Straßen und auf den Autobahnen das Ergebnis einer klugen Abwägung zwischen dem Wunsch nach unbegrenzter Bewegung und der Sicherheit aller Verkehrsteilnehmer*innen. Im Vergleich zu den in der Corona-Krise getroffenen Maßnahmen wären die Kosten pro vermiedenem Todesfall deutlich geringer. Dazu könnte der Verkehrsfluss verbessert, die CO2-Emissionen gesenkt werden. Die Corona-Krise sollte der Debatte um mehr Vernunft im Straßenverkehr neuen Schwung verleihen.