Foto: ©CleverShuttle / Finn Fredeweß

Berlin, 29.06.2020. Von Lisa Ruhrort, Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB). Auch in Zeiten von Corona ist die Verkehrswende in aller Munde. Was lange Zeit eine randständige Meinung war, wird aktuell in vielen Städten zunehmend mehrheitsfähig: Wir haben zu viele Autos. Diese nehmen viel zu viel Platz weg, verursachen Stau und Schadstoffe und verhindern, dass öffentliche Räume wirklich von allen genutzt werden können. Zunehmend werden daher Visionen laut, wie unsere Städte in Zukunft aussehen könnten, wenn wir die Zahl der Autos drastisch reduzieren. Vor allem würden die öffentlichen Räume dann wieder mehr Platz für Radfahrer*innen, Fußgänger*innen und spielende Kinder bieten. Konkret peilt zum Beispiel das Umweltbundesamt als Zielwert an, dass wir in 2030 mit ungefähr 150 PKW pro 1000 Einwohner*innen auskommen können – und dabei trotzdem weiter mobil sind. Ein Bündnis aus Berliner NGOs hat jüngst gefordert, die Zahl der Autos in Berlin alle zehn Jahre zu halbieren.

Die Frage ist aber: Wie kommen wir da hin? Wie lässt sich die Zahl der Autos reduzieren? Auf der einen Seite müssen wir die bisherigen Privilegien des privaten PKW abbauen. Öffentliche Räume müssen neu aufgeteilt werden (zum Beispiel neue Fahrradwege, mehr Fußgängerflächen, weniger Parkplätze). Auf der anderen Seite brauchen wir dazu aber auch viele neue Mobilitätsangebote. Bus, Bahn und Fahrrad sind zwar enorm wichtig für die Verkehrswende. Wenn wir aber wirklich wollen, dass zukünftig hunderttausende Haushalte auf ihr Auto verzichten, dann muss es daneben auch noch weitere Optionen geben. Erst dann wird es auch für die Masse der Autobesitzer*innen (in Berlin gibt es 1,2 Millionen private PKW!) attraktiv, das eigene Auto ganz abzuschaffen. Eine Möglichkeit dafür liegt in so genannten Ride-Pooling-Angeboten. Diese flexiblen Sammeltaxis könnten den traditionellen ÖPNV mit Bussen und Bahnen durch eine Tür-zu-Tür-Option ergänzen.

Wie viele Autos könnten ersetzt werden?

Doch wie viele Menschen wären bereit, den eigenen PKW abzuschaffen und stattdessen diese neuen Angebote in Kombination zu Bus, Bahn und anderen zu nutzen? Um dies zu beantworten, muss man sich die verschiedenen Typen von Autobesitzer*innen in den Großstädten näher anschauen: Darunter gibt es eine Teilgruppe von Autobegeisterten, die auch mit den verlockendsten Alternativen nicht vom eigenen PKW abzubringen wären. Eine andere Teilgruppe besteht aus Menschen, die nicht unbedingt autobegeistert sind, die aber viele Wege fahren, die mit anderen Verkehrsmitteln nicht gut gemacht werden können (z.B. die Krankenschwester, die abseits von U- und S-Bahn wohnt und um 4:00 Uhr von der Nachtschicht kommt). Diese beiden Gruppen werden die Letzten sein, die ihr Auto aufgeben. Es gibt aber noch eine andere Gruppe: Diese Menschen haben ein Auto im Haushalt, sind aber eher pragmatisch dazu eingestellt. Sie halten am Auto fest, weil die bisherigen Alternativen ihnen nicht für alle Wege attraktiv genug sind; oder sie behalten das Auto sogar schwerpunktmäßig nur noch als „Versicherung“, wenn man es ‚eben doch manchmal braucht‘.

Vollständiger Beitrag / Download: PDF

Zum Weiterlesen:

Ruhrort, Lisa (2019): Transformation im Verkehr / Erfolgsbedingungen für verkehrspolitische
Schlüsselmaßnahmen, Springer VS: Wiesbaden. Link

Canzler, Weert; Knie, Andreas und Lisa Ruhrort (2019): Autonome Flotten / Mehr Mobilität mit
weniger Fahrzeugen, Oekom-Verlag: München. Link

Rode, Philipp; Christian Hoffmann; Jens Kandt; Duncan Smith and Andreas Graff (2015). Towards
New Urban Mobility: The case of London and Berlin. Peter Griffiths (ed). LSE Cities/InnoZ. London
School of Economics and Political Science: London. Pdf

Innovative Ideen und Perspektiven für Mobilität – Digitalisierung – Tourismus – Umwelt als Bausteine eines Gesamtkonzeptes für die Zukunftswerkstatt Lausitz. Ein Projekt der Wirtschaftsregion Lausitz GmbH. Von Prof. Dr. Andreas Knie.

Die Lausitz ist ein für Deutschland typischer ländlicher Raum, der vor großen wirtschaftsstrukturellen Herausforderungen steht. Der diese Region viele Jahrzehnte geprägte Braunkohletagebau verliert mehr und mehr seine wirtschaftliche und kulturelle Bedeutung. Hinzu kommen die Folgen des demographischen und wirtschaftsstrukturellen Wandels. Die Abwanderung der Alterskohorten der 20-26-jährigen verschärft die Folgen der Überalterung. Die Region muss sich gleichsam „neu erfinden“ und dazu neue Potentiale entdecken und fördern.

Im Folgenden wird dazu der Vorschlag gemacht, die Lausitz als einen regulatorischen Experimentierraum für innovative Verkehrskonzepte zu entwickeln. Ziel ist es, die Qualität der Erschließung eines ländlichen Raumes deutlich zu verbessern und dabei so fundamental neue Wege einzuschlagen, dass sich die Region zu einem Besuchermagnet für innovative Dienstleistungen profiliert. Die Attraktivität kann dadurch hergestellt werden, indem die Lausitz als „Zukunftslabor“ die Etablierung von neuen Diensten ermöglicht, die in anderen Gebieten nicht realisierbar sind. Die Lausitz wird so zum Synonym für Experimente im Bereich der digitalen Mobilität. Die kulturellen Quellen sollen dabei helfen, diesen Weg glaubhaft als eine besondere Form regionaler Identitäten darzustellen.

Der Hintergrund für den Erfolg einer neuen Mobilitätsstrategie ist die Erkenntnis, dass ländliche Regionen heute und zukünftig nicht mehr mit den konventionellen Instrumenten der klassischen Daseinsvorsorge erschlossen werden können. Seit Ende des Zweiten Weltkrieges haben beide deutsche Staaten sowie die Mehrzahl der europäischen Staaten überhaupt, in der Mobilität das private Automobil als Kernelement der Politik eines Guten Lebens definiert und eine Reihe von verkehrspolitischen Rahmenbedingungen etabliert. Das „Auto im Kopf“ wurde zum Maß der Dinge. Damit leiteten sich in West– und später auch in Ostdeutschland umfassende und weitreichende Zersiedlungsstrukturen ab. So steigt bis heute die Zahl der Menschen, die Städte in Richtung ländliche Räume bzw. Stadtrandlagen verlassen. Voraussetzungen bei diesen räumlichen Verschiebungen ist die Verfügbarkeit über ein Auto. Nur so kann ein hohes Maß an Flexibilität bei der Suche nach Wohnräumen und Arbeitsplätzen erreicht werden.

Ländliche Räume sind in einem hohen Maße relevant. Rund 62 Prozent der Fläche Deutschland ist
Land. Die Lausitz ist daher ein für Deutschland charakteristischer Raumtyp und von daher auch von
besonderer Bedeutung. Hier sind mehr als 700 Fahrzeuge pro 1000 Einwohner zugelassen.

Die bisher eingeschlagene Strategie der „Automobilisierung“ stößt aber mehr und mehr nicht nur in den Städten, sondern auch in den Stadt-Land Verflechtungen an Grenzen. Vom Garanten der Freiheit, vom Instrument der Flexibilität und Individualität transformiert sich der massenhafte Fahrzeugverkehr mehr und mehr zu einem zentralen Problem für Umwelt und Lebensqualität. Die Fahrzeugmengen sind in verkehrlichen Spitzenzeiten von der vorhandenen Infrastruktur nicht mehr zu bewältigen, denn bei den Fahrzielen dominieren bei Ausbildungs-; Versorgungs- und Arbeitsfahrten weiterhin die Verdichtungsräume als Destinationen. Subjektiv wird die Abhängigkeit vom eigenen Fahrzeug als zu hoch empfunden, der Mangel an Alternativen beklagt.

Während in den städtischen Räumen heute bereits Alternativen zum privaten Kfz verfügbar sind und auch gelebt werden; sind diese Alternativen am Lande nicht verfügbar. Busse und Bahnen im Linienbetrieb und festen Bedientakten sind für Autofahrende keine Alternative. Auch Flexibilisierungen wie Ruf- oder andere Formen von Bedarfsbussen lösen das prinzipielle Problem der eingegangenen und gelebten Autoabhängigkeit nicht. Daher greift auch die gebetsmühlenhaft vorgetragene Formel eines besseren und leistungsfähigeren ÖPNV ins Leere. Zugespitzt formuliert: Busse und Bahnen sind zu einer Zeit erfunden worden als es noch keine Autos gab. Dies sollte auch für neue Innovationen im ländlichen Verkehr eine Leitformel sein.

Zwischenzeitlich sind diese Formen des öffentlichen Verkehrs tatsächlich zu einer Art „Resteversorgung“ verkommen: Rund 90 Prozent des ländlichen Verkehrs sind Schüler- und Ausbildungsverkehre. Wer also die Bündelungswirkung von Großgefäßen als wirksame Lösung der Umwelt- und Verkehrsprobleme favorisiert, muss diese sozusagen wieder in die heutigen Realitäten zurückholen, sie gleichsam individualisiert nutzbar erscheinen lassen. Mit Haltestelle und Fahrplänen und Busrouten zu Zeiten wo keiner fahren will, zu Orten wo keiner hin will, kann dies nicht gelingen. Kernelemente eines modernen Verkehrs auf dem Lande gehört daher eine Punkt-zu-Punkt Verbindung, die praktisch zu jeder Zeit verfügbar ist ohne das dazu ein eigenes Auto gebraucht wird. Die Optionen digitaler Plattformen könnten hier wichtige Impulse liefern, der intermodale Verkehr überhaupt zu einem Leitbild ländlicher Mobilität werden.

Wer entlang dieser Formel Angebote schafft, hat Aussicht auf starke Resonanz und auf eine Wertschöpfungstiefe, die mit konventionellen Angeboten nicht zu erreichen ist. Die Lausitz könnte dafür das Labor für diese neue Mobilität werden. Vorausgesetzt ist aber, dass man sich selbst zu einem „regulatorischen Experimentierraum“ definiert. Denn das Neue ist nicht im existierenden Rechts- und Finanzierungsrahmen zu haben. Die Vorgaben des Personenbeförderungsgesetzes erlauben nur eine konventionelle Bereitstellung von Nahverkehrsleistungen. Aber über Experimentierklauseln können neue Räume – im wahrsten Sinne – erschlossen werden. Der Nukleus einer solchen Strategie ist eine wissenschaftlich geprägte Forschungs- und Entwicklungseinrichtung, die als Magnet für eine hohe überregionale Aufmerksamkeit dient, die den regionalen Diskurs anleitet und dabei die vorhandenen Kompetenzen vernetzt. Das „Bad Muskauer Institut für die Zukunft der Mobilität im ländlichen Raum“ soll diese Rolle mit unterschiedlichen Formaten annehmen. Ausgewählte Piloten können als erste Demonstrationsvorhaben die Richtung des Reformansatzes zur innovativen Erschließung ländlicher Räume andeuten. Dabei sind Forst, Bad Muskau sowie Görlitz als erste Demonstrationsstandorte vorgesehen, die alle auf eine neue „intermodale Erschließungsqualität“ in einem Hub and Spoke Format mit hoher Aufmerksamkeit und regionale Wertschöpfungstiefe in einem regulativen Experimentierraum fokussieren.

Die vollständige Studie finden Sie in folgendem Dokument:
PDF-Download: Innovative Ideen und Perspektiven für Mobilität – Digitalisierung – Tourismus – Umwelt als Bausteine eines Gesamtkonzeptes für die Zukunftswerkstatt Lausitz. Ein Projekt der Wirtschaftsregion Lausitz GmbH. Von Prof. Dr. Andreas Knie.

Schlussbemerkung

Die Lausitz könnte das Zukunftslabor für die ländliche Mobilität werden. Vorausgesetzt ist aber, dass es eine Bereitschaft zum Experimentieren gibt, verbunden mit dem Bemühen, über die bisherigen Ansätze der Stärkung der klassischen Angebotsformen hinaus zu kommen. Nur wenn man Punkt-zu-Punkt Verkehre anbieten kann und diese als Hub and Spoke Formate zu intermodalen Angeboten integriert, lassen sich völlig neue Bedienqualitäten sowie eine damit verbundene Wertschöpfung entwickeln. Die Lausitz könnte sich so aus der Falle des demographischen und wirtschaftsstrukturellen Wandels befreien. Der vorgestellte Ansatz ist so etwas wie ein „Living Region“, bei dem Forschende und Unternehmen eingeladen sind, gemeinsam mit den Menschen vor Ort Neues zu wagen. Dieser Prozess kann schrittweise und modular beginnen, er sollte aber zügig mit einem Eröffnungskolloquium starten. Die Signale der Großen Koalition deuten darauf hin, einen solchen Ansatz auch finanziell fördern zu wollen.

Grafik: © Kristin Rabaschus

Das Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und nukleare Sicherheit (BMU) sucht kreative Ideen für eine ökologisch und sozial nachhaltige Mobilität der Zukunft aus dem gesamten Bundesgebiet. Wie kann eine umwelt- und klimafreundliche Mobilität in Zukunft aussehen? Welche Herausforderungen und Lehren ziehen wir aus der aktuellen Corona-Pandemie? Machen Sie mit! Gesucht werden Ideen mit Innovationscharakter für eine nachhaltige Mobilität im Jahr 2035. Reichen Sie Ihre Projektskizze bis zum 15. November 2020 ein und sichern Sie sich die Chance auf eine Förderung.

Das BMU fördert in zwei aufeinander aufbauenden Förderphasen die partizipative Entwicklung von Zielbildern für das Jahr 2035 sowie konkrete Schritte zu deren Umsetzung. Unterstützt werden Projekte in großen oder kleinen Städten, im ländlichen Raum, in Stadt-Umland-Regionen oder einzelnen Quartieren. Ein besonderer Schwerpunkt soll die Digitalisierung des Verkehrs sein. Weitere Vertiefungsmöglichkeiten bestehen zum Pendlerverkehr, dem Wirtschaftsverkehr und zu den Herausforderungen in den ländlichen Räumen. Ergänzt werden kann dies um eigene Themen.

Hintergrund des Wettbewerbs sind die aktuellen Entwicklungen und zukünftigen Herausforderungen im Verkehr: Zuzug in Ballungsräume und gleichzeitig in manchen Regionen Abwanderung aus dem ländlichen Raum, technologische Entwicklungen (Antriebstechnik, Buchungssysteme, Logistik, Digitalisierung, automatisiertes Fahren etc.), stärkere Stadt-Umland-Verflechtungen u. a. mit steigenden Pendelverkehren sowie der demographische Wandel mit der Veränderung der Altersstruktur.

Wir sehen die neuen Anforderungen an Mobilität als Chance: Unser Ziel ist es, neue Impulse für eine umwelt- und sozialverträgliche Mobilität, für positive Nachhaltigkeitswirkungen auf Klima und Umwelt sowie Mensch und Gesellschaft und damit insgesamt mehr Lebensqualität für alle zu schaffen. Mit dem Wettbewerb möchte das BMU die partizipative Erarbeitung von Zielbildern für eine nachhaltige Mobilität im Jahr 2035 sowie die Umsetzung konkreter Maßnahmen zur Erreichung des Zielbildes unterstützen. Die Zielbilder erlauben einen langfristigen Blick in die Zukunft. Ausgehend davon werden die Schritte geplant und umgesetzt, die unternommen werden müssen, um das Ziel zu erreichen.

Weitere Infos finden Sie unter:
#mobilwandel2035: Das BMU sucht und fördert kreative Ideen für eine nachhaltige Mobilität von morgen

Bild: © Stefan Sauer/ dpa

18.06.2020. Mit Milliarden will der Staat Busse und Bahnen aus der Coronakrise retten und so auch Alternativen zum Auto stärken. Doch der öffentliche Verkehr ist in jetziger Form nicht zukunftsfähig, findet Transportexperte Andreas Knie – und fordert radikales Umdenken.

Die Corona-Pandemie hat für den öffentlichen Nahverkehr gravierende Folgen. Unternehmen verzeichnen Fahrgastverluste von mehr als 80 Prozent. Nun soll ein Schutzschirm über Busse und Bahnen gespannt werden, der Bund stellt den Ländern im Konjunkturpaket rund 2,5 Milliarden Euro zum Ausgleich von Betriebsverlusten bereit. Für die Bahn gibt es sechs Milliarden Euro frisches Eigenkapital.

Das klingt wunderbar. Doch wird womöglich das Falsche gerettet?

Angesichts von Staus, Stress und steigenden CO2-Emissionen rufen viele Fachleute und Politiker nach einer Verkehrswende. Die Dominanz des privaten Autos soll zurückgefahren, Busse und Bahnen attraktiver werden. Diese Forderungen stehen seit Jahrzehnten auf der Agenda, doch in den vergangenen Jahren hat der Staat tatsächlich zusätzliche Milliardensummen in den öffentlichen Verkehr gesteckt, Fahrzeuge angeschafft, Streckennetze erweitert.

Doch Busse und Bahnen haben ihre Anteile am Verkehrsmarkt seit vielen Jahren nicht wirklich steigern können. Der Fernverkehr verharrt bei rund acht Prozent und der ÖPNV bleibt stabil unter zehn Prozent. Der öffentliche Verkehr wurde nur dort vermehrt genutzt, wo die Städte wuchsen. In kleineren Kommunen gehen die Fahrgastzahlen sogar zurück. Auf dem Land sind mehr als 90 Prozent der Fahrgäste Schüler und Auszubildende.

In der vergangenen Woche sah sich der Europäische Rechnungshof genötigt, die bisherigen Förderstrategie für den öffentlichen Verkehr gerade auch in Deutschland zu rügen. Mit klaren Worten drückte die Behörde aus, was offensichtlich ist: Es hat alles nichts gebracht, die Zahl der zugelassenen Autos steigt jedes Jahr um bis zu drei Prozent.

Mehr vom Gleichen scheint beim öffentlichen Verkehr nicht zu helfen. Selbst in Berlin, der Stadt mit einem sehr guten ÖPNV werden nur 28 Prozent der täglichen Wege mit Bussen und Bahnen unternommen.

Dabei sind sich so gut wie alle einig. Die Zukunft der Mobilität kommt nicht ohne einen leistungsfähigen Verkehr mit Bussen und Bahnen aus. Großgefäße, die viele Menschen sehr effizient transportieren, sind für einen flüssigen Verkehr in den Ballungsräumen unerlässlich.

Doch jetzt kommt die Pandemie und deckt die Schwächen des ÖPNV gnadenlos auf. Wer die Wahl hat, favorisiert plötzlich doch wieder das Auto oder nutzt das Fahrrad, die Stammkunden zögern. Das Virus lässt individuellere Verkehrsmittel auf einmal deutlich attraktiver erscheinen.

Zeit, die die Teilnehmer mobil verbracht haben in Prozent:

Das alles zeigt: Für viele Menschen ist der aktuelle ÖPNV im Zweifel verzichtbar oder die zweitbeste Wahl. Als Rückgrat für die Verkehrswende taugt er deshalb leider nicht.

Busse und Bahnen waren wunderbare Dinge – vor der Erfindung des Autos. Außerhalb der großen Städte ist und bleibt der ÖPNV ein Angebot für die, die sich kein eigenes Fahrzeug leisten oder aus anderen Gründen nicht nutzen können. Ein ungeliebtes Kind der Autogesellschaft, dem keiner wirklich mit Herzblut begegnet.

Busse und Bahnen werden in der deutschen Tradition der Daseinsvorsorge zwar mit beträchtlichem Aufwand betrieben, aber eben nur bereitgestellt. Kunden kommen in dieser Welt nicht vor, die öffentlichen Mittel fließen, egal wie viel Menschen den Dienst tatsächlich in Anspruch nehmen. Keiner der Chefs der großen Nahverkehrsunternehmen, der selbst nicht Dienstwagen und privates Auto nutzt.

Statt des dringend benötigten Wandels hin zu einem digital vernetzten Angebot ist Stückwerk zu besichtigen. Immerhin, die Hamburger Hochbahn versucht es mit „Switch“, die BVG mit „Jelbi“, doch kaum einer kennt oder nutzt diesen Service. Die Deutsche Bahn droht, das erfolgreiche Angebot CleverShuttle einzustellen.

Der Verband der Verkehrsunternehmen (VDV) ist seit mehr als zehn Jahren dabei, eine App für alle Angebote zu realisieren und scheitert immer wieder am fehlenden Verständnis darüber, warum man das überhaupt braucht. Der Betriebsablauf wird dadurch nur gestört. Die Verteidiger dieses Elends warnen bei jedem neuen Verleih- oder Poolingangebot vor angeblicher Kannibalisierung, es könnte eine Busfahrt ersetzt werden.

Dabei ist alles für einen Wandel vorhanden: Die Digitalisierung ermöglicht überall in Deutschland Tür-zu-Tür-Verbindungen ohne Privatautos. Ein Klick aufs Smartphone und schon könnte ein Fahrzeug jemanden abholen und überall hinbringen. Das Fahrzeug kann ein Auto sein, ein Fahrrad, ein Tretroller oder eben auch Busse und Bahnen – gemeinsam, vernetzt und digital zu einer einzigen Dienstleistung verschmolzen.

Doch dazu müsste die Organisation von Bussen und Bahnen völlig neu gedacht werden. Echter Kundennutzen ersetzt die Logik der Bereitstellung und orchestriert das Gesamtangebot zu einem einzigen Kunstwerk, in dem niemand mehr ein privates Auto braucht. Die Milliarden des Konjunkturprogramms könnten daher für einen völlig neuen ÖV wunderbar angelegt werden und sollten nicht zur Konservierung des Bestehenden führen.

Zum Glück kommt frischer Wind auf. Ausgerechnet das Bundesverkehrsministerium unter CSU-Mann Andreas Scheuer beschließt in dieser Woche Grundzüge einer Novelle für das Gesetz, das im öffentlichen Verkehr alles regelt und hinter die sich jeder beim Nichtstun bisher versteckt hat: Das Personenbeförderungsgesetz.

Digitale Angebote sollen erstmals zugelassen werden – es ist so, als ob nun Farbfernsehen erlaubt würde. Die Kommunen können Poolingdienste mit Auflagen versehen, diese mit Bussen und Bahnen zu verbinden und den Verkehr als ein „Hub and Spoke“-Prinzip organisieren: Busse und Bahnen als Verbindung zwischen den Verkehrskontenpunkten („Hubs“) und Poolingdienste, Fahrräder, E-Autos, Scooter, Tretroller als Tür-zu-Tür Verbindung („Spoke“), später ergänzt durch autonome Shuttles, die den Verkehr bequemer, sicherer und nachhaltiger machen. Es muss dann keiner mehr ein Auto besitzen oder selbst steuern.

Kommt nicht, braucht keiner, geht nicht? Solche Einwände klingen allzu bekannt, als erste Reaktion auf Apple, Google, Facebook, Amazon oder Tesla. Und dann kommt der Wandel doch schneller – aber von anderen und wir sind wieder nicht dabei.

Ein Gastbeitrag von Andreas Knie.

Den Originalartikel bei SPIEGEL Mobilität finden Sie hier.

Bild: © Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung gGmbH

Mobilität in Zeiten von Corona: Auto bleibt das meistgenutzte Verkehrsmittel

Berlin, 15.06.2020. Die Deutschen haben während des Corona-Lockdowns das Zufußgehen wiederentdeckt. Sie legten fast jeden dritten Weg zu Fuß zurück. Das beliebteste Fortbewegungsmittel blieb jedoch das Auto. Mit dem Hochfahren der Aktivitäten könnte der Pkw sogar stärker genutzt werden als vor der Pandemie. In einer Umfrage gab rund ein Drittel der Befragten an, aus Angst vor dem Virus statt Busse und Bahnen in der nächsten Zeit lieber das Auto zu nehmen. Ein Forscherteam unter Leitung des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung (WZB) hatte von Mitte März bis Mitte Mai 2020 rund 1.000 Menschen repräsentativ zu ihrem Mobilitätsverhalten befragt.

Während des Lockdowns wurden die Wege der Menschen insgesamt weniger und kürzer: Waren zuvor rund 85 Prozent der Menschen über 16 Jahre täglich unterwegs, fiel diese Zahl während des Stillstands zwischenzeitlich auf unter 60. Noch drastischer gingen Anfang April die dabei zurückgelegten Entfernungen zurück: von knapp 40 Kilometer auf weniger als 10 Kilometer. 

Bei der Wahl der Verkehrsmittel holte Zufußgehen in einem beachtlichen Ausmaß auf (30 Prozent aller Wege statt 19 Prozent in einem normalen Mai). Das Auto dagegen verlor: Wurden mit dem Pkw vor der Pandemie 59 Prozent aller Wege zurückgelegt, waren es während des Shutdowns etwa 45 Prozent. Dennoch bleibt das Auto auch in Zeiten der Corona-Pandemie das beliebteste Verkehrsmittel der Deutschen. 

Der deutschlandweite Anteil des Fahrrads blieb im Monatsschnitt für den Mai mit 10 gegenüber 12 Prozent fast stabil. Über den Tagesverlauf zeigten sich hier Unterschiede. Morgens, vormittags und abends waren die Radwege leerer als sonst, in den Nachmittagsstunden wurde dagegen mehr geradelt. Der öffentliche Verkehr büßte im untersuchten Zeitraum deutlich ein. Sein Anteil fiel von 10 auf 6 Prozent.

„Die Ergebnisse zeigen, wie fragil die in den letzten Jahren begonnene Verkehrswende im Sinne einer Reduktion des Autoverkehrs noch immer ist und wie groß die Kraft der über Jahre eingeübten Routinen“, sagt Andreas Knie, Leiter der Forschungsgruppe Digitale Mobilität am WZB. Die Pandemie mache die Verkehrsprobleme wie durch eine Lupe sichtbar: Busse und Bahnen blieben in der Nutzung kompliziert und seien vielfach nicht wirklich geliebt, das Fahrrad sei immer noch nicht massenverkehrstauglich und das Auto weiterhin die bequemste aller Alternativen. 

In den Großstädten dagegen scheinen sich die Alternativen zum Auto bereits zu etablieren. „Die Pandemie könnte in den Städten die Verkehrswende weiter voranbringen, wenn der Radverkehr mehr Unterstützung erfährt“, erklärt WZB-Forscher Weert Canzler. So registrierten die Zählstellen der Großstädte zum Beispiel in Berlin Ende Mai schon wieder so viele Radfahrer*innen wie im Vorjahr.

Die Corona-Krise zeige aber auch, dass viel mehr möglich sei als gedacht, betonen die WZB-Forscher. Ein Beispiel dafür sind temporäre Infrastrukturen wie die Pop-up-Radwege, die von einem Tag auf den anderen entstanden sind und genug Platz zum Radeln unter Wahrung der Abstandsregeln bieten. Am Stadtrand und in ländlichen Gebieten bleibe die Autonutzung dagegen aller Voraussicht nach stabil.

Die Umfrage bildet den Auftakt von MOBICOR, ein vom WZB geleitetes Projekt in Zusammenarbeit mit infas, MOTIONTAG und Nuts One, gefördert vom Bundesministerium für Bildung und Forschung. Ziel ist es, Menschen in den kommenden drei Jahren wiederholt zu ihrem Verkehrsverhalten zu befragen. Zusätzlich werden die Mobilitätsmuster ausgewählter Personen mithilfe digitaler Erhebungstechniken per App erfasst.

Die Ergebnisse sind in einem ersten Mobilitätsreport zusammengefasst:
Zurück zur Normalität? Unsere Alltagsmobilität in der Zeit von Ausgangsbeschränkungen, Quarantäne und wiedererlangter Routinen (PDF)

Bild: © teilAuto Leipzig (Mobility Center GmbH)

09.06.2020. Eine solide Infrastruktur für Bus und Bahn, eine steigende Anzahl von Fahrradfahrenden, stationäres und flexibles Car- und Bikesharing und digitale Ridepooling-Angebote: Alternativen zum privaten Pkw haben in Leipzig zu einer Veränderung im Mobilitätsverhalten geführt, schreiben die Forscher Lisa Ruhrort und Andreas Knie. Die Stadt habe das Potenzial, zum „Verkehrsparadies“ zu werden.

Der Europaische Rechnungshof hat letzte Woche in einem Gutachten die bisherigen Anstrengungen der Kommunen zur Verbesserung des Öffentlichen Verkehrs gerügt. Die bisherigen Investitionen hätten nichts gebracht, weil der Anstieg des Automobilverkehrs weiter zunehmen würde. Besonders in der Kritik stand Leipzig.

Doch eine genaue Analyse der Entwicklung der Stadt zeigt, dass Leipzig mit seiner kompakten Stadtstruktur und einer stark wachsenden Bevölkerungszahl bereits den Kern einer neuen Verkehrskultur lebt und als städtisches Labor der Zukunft funktioniert: eine solide ÖV-Infrastruktur, eine steigende Anzahl von Fahrradfahrenden, kombiniert mit einem wachsenden stationären und flexiblen Car- und Bikesharing, ergänzt durch digitale Ridepooling-Angebote sind die sichtbaren und gelebten Zeichen von Alternativen zum privaten Auto.

Die Ingredienzien des Wandels in eine attraktive und nachhaltige Verkehrskultur sind in keiner anderen Stadt in Deutschland bereits so stark ausgeprägt wie in Leipzig. Allerdings merkt die Stadt es selbst noch gar nicht und bietet Kritikern wie dem Rechnungshof unnötige Angriffsfläche.

Auf den ersten Blick scheinen die Zahlen zum Leipziger Verkehr ganz normal. Der Anteil des motorisierten Individualverkehrs (MIV) liegt mit knapp 40 Prozent im bundesdeutschen Mittelfeld. Der Anteil Busse und Bahnen ist mit rund 18 Prozent sogar nur hinteres Mittelfeld. Vorne mit dabei ist Leipzig beim Fahrradverkehr, der mit über 18 Prozent sogar etwas höher ist als in Berlin (17 Prozent). Rund 37 Prozent der Haushalte in Leipzig haben kein eigenes Kraftfahrzeug (Kfz).

Die Zahlen relativieren sich aber, wenn man die Bevölkerungsentwicklung der Stadt zugrunde legt. Leipzig hatte 1998 noch rund 450.000 Einwohner, 20 Jahre später sind es bereits 600.000 mit weiter steigender Tendenz. Keine vergleichbare Stadt ist in Deutschland in den letzten Jahrzehnten so gewachsen wie Leipzig. Städte und Ballungsräume in dieser Größenordnung und mit dieser Wachstumsdynamik zeigen in der Regel eine deutlich höhere Kfz-Dichte auf wie beispielsweise Düsseldorf, Frankfurt oder Stuttgart.

Leipziger sind nicht auf den eigenen Pkw angewiesen

Dies deutet an, dass sich in Leipzig heimlich, still und leise bereits ein Wandel im Verkehrsverhalten zeigt, denn es gibt Alternativen zum privaten Auto. Mit knapp 600 Carsharing-Fahrzeugen, davon über 100 als Freefloating-Angebote, ist eine solide Grundlage bereits gelegt. Mit 150 Kilometer Straßenbahnnetz verfügt Leipzig über ein sehr gut ausgebautes und leistungsfähiges ÖV-Netz, das die Stadt sehr gut erschließt, allerdings noch gut gefüllt werden muss. Denn mit einer durchschnittlichen Auslastung von gut 16 Prozent über alle Strecken, Linien und Zeiträume ist noch jede Menge Luft nach oben.

Digitale Poolingdienste ergänzen das Angebot an Bussen und Bahnen sehr sinnvoll. Die Auswertung der Fahrprofile sowie die Befragung der Kunden zeigt, dass diese digitalen Anrufsammeltaxis besonders in Leipzig in dieser Hinsicht ein Erfolgsmodell ist. Die Poolingquote, also die Zahl von Fahrten, in denen mehrere Fahrgäste beförderte werden, beträgt in Leipzig knapp 50 Prozent und erreicht am Wochenende im Vergleich zu anderen Städten mit durchschnittlich rund 65 Prozent wahre Spitzenwerte.

Besonders eindrucksvoll ist in Leipzig, dass solche digitalen Poolingdienste dazu dienen, die Schwachlastzeiten des ÖVs zu kompensieren. An Wochenenden und in den späten Abendstunden ist die Nutzungsfrequenz dieser Angebote sehr hoch. Samstags zwischen 23 und 2 Uhr transportieren die Fahrzeuge ein Drittel der Fahrgäste im Wochenverlauf.

Das Interessante: Rund 67 Prozent der befragten Nutzer verfügen über ein Fahrzeug im Haushalt, aber rund 40 Prozent der Befragten könnten sich in Leipzig vorstellen, das Auto abzuschaffen, wenn solche Poolingangebote dauerhaft verfügbar bleiben. Auf Basis der Umfragen lässt sich hochrechnen, dass in Leipzig ein Pooling-Fahrzeug rund 50 private Pkws ersetzen könnte.

Zurzeit werden im Stadtgebiet von Leipzig nur 65 Pooling-Autos zugelassen, der Betrieb läuft unter der Kontrolle der Experimentierklausel des Personenbeförderungsgesetzes und wird daher von der Stadt streng reglementiert. Wenn also statt der sehr begrenzten Zahl beispielsweise 1.000 Fahrzeuge zugelassen würden, dann könnten rechnerisch rund 50.000 Fahrzeuge durch Pooling-Angebote abgeschafft werden.

Ergänzt man noch die Berechnung, dass durch die Kombination aus unterschiedlichen Carsharing-Angeboten pro Fahrzeug laut Umweltbundesamt rund 15 Autos eingespart werden, dann könnte eine offensive Flächenbereitstellung solcher Angebote sofort Wirkung zeigen.

Nach Schätzung von Betreibern wäre in Leipzig für gut 1.200 Fahrzeuge eine Nachfrage vorhanden. Damit könnten weitere 18.000 private Kfz eingespart werden, insgesamt also 68.000 Fahrzeuge. Das ist rund ein Drittel des gesamten privaten Kfz Bestandes in Leipzig.

Noch immer genießt das Auto Privilegien

Die Grundlagen sind dafür gelegt, dass Leipzig die Zahl der privaten Autos deutlich und sofort zurückfahren kann, weil Alternativen verfügbar sind und genutzt werden. Die kompakte Stadtstruktur, die hohe Zahl von Radfahrenden sowie das um Car- und Bikesharing sowie durch digitale Poolingdienste ergänzte Netz an Straßenbahnen und Bussen, könnten die Stadt sofort in eine nachhaltige, staufreie und attraktive Verkehrszukunft beamen. Wenn es jetzt in Leipzig eine App für alle gäbe, wäre der Zugang zu den unterschiedlichen Angeboten noch leichter. Es kommt aber ein weiterer Aspekt hinzu, der in noch überhaupt keiner Stadt in Deutschland erreicht wurde.

Dem Vernehmen nach werden die Angebote des Freefloating-Carsharings sowie auch die des digitalen Poolings bereits jetzt in Leipzig nahezu auskömmlich betrieben. Leipzig gönnt sich dennoch immer noch sehr viel Platz für Autos, der Innenstadtring ist durchweg mehrspurig, eine Vorrangschaltung für Bahnen fehlt. Was wäre, wenn die Stadt die Privilegien des privaten Autos etwas zurückfahren würde?

Es könnte ein neues Verkehrsparadies mit starker wirtschaftlicher Strahlkraft entstehen. Leipzig, die eigentliche Stadt der Wende. Dann hätte die Stadt auch die Chance dem Europäischen Rechnungshof zu entgegnen, dass eine Förderung von Bussen und Bahnen alleine tatsächlich die Verkehrswende nicht garantiert, dass die nächsten Schritte aber bereits in der Umsetzung sind.

Die Autoren Andreas Knie und Lisa Ruhrort forschen am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB) zu „Digitale Mobilität und gesellschaftliche Differenzierung“.

Der Beitrag ist erschienen beim Tagesspiegel Background.