Grafik: Brandeins
Folge 03: Mobilität – Fortbewegung mit Sinn
Reisefreiheit und Welthandel sind große Errungenschaften, aber der Preis für unsere Mobilität ist hoch.
Die beste Möglichkeit, ihn zu senken, ist die Vermeidung unnötigen Verkehrs. Das bremst die Erderwärmung, mindert Stress und erhöht die Produktivität.
Der Corona-Effekt
Die Vordenker des Thinktanks Agora Verkehrswende wollen „Lust auf den Wandel machen“. Als ihre Anregungen für Kommunikationskampagnen, die Verhaltensänderungen bewirken sollten, im März 2019 erschienen, hätte niemand geahnt, welch radikaler Wandel in kürzester Zeit möglich ist – ganz ohne PR- Aufwand. Heute sieht die Welt anders aus, etwa für den Unternehmensberater und jungen Familienvater aus dem Münchener Speckgürtel, der jeden Montag um 4.30 Uhr zu Kunden nach Paris oder Wien hetzte und am Donnerstag spätabends heimkam, wenn sein Sohn längst schlief. Statt nur freitags sitzt er nun fünf Tage die Woche im Home Office, isst gemeinsam mit Frau und Kind, führt berufliche Gespräche mit Headset in Freizeitkleidung auf der Terrasse. Digitalisierung und Breitbandnetze machen es möglich. Sein Arbeitgeber geht nicht so weit wie der kalifornische Onlinedienst Twitter, der allen Mitarbeitern freistellte, künftig nur noch von zu Hause aus zu arbeiten. Aber der Beweis, dass ein erheblicher Teil der beruflichen Mobilität unproduktiven Leerlauf bedeutet, ist ungewollt erbracht.
Auch Gregor Pillen, seit Anfang des Jahres Vorsitzender der Geschäftsführung von IBM Deutschland, ist begeistert, wie reibungslos seine Mitarbeiter und Kunden den fliegenden Wechsel hin zur Telekooperation hinbekommen haben. „Was die Digitaldienste ermöglichen, ist phänomenal“, sagt der Manager, „das bringt jetzt viele Unternehmen dazu, darüber nachzudenken, wie das neue Normal aussehen wird.“ In seinem Haus werde das auf gar keinen Fall ein Entweder-oder sein, sondern ein Hybrid: „Der Mensch ist zum Glück analog, das Digitale ersetzt nicht alles. Die Leute müssen sich auch im richtigen Leben sehen – und riechen.“ Der IT- und Beratungskonzern macht den Mitarbeitern keine starren Vorgaben, wie sie ihre Arbeitszeit zwischen Gemeinschaftsbüro, Home Office und Kunde aufteilen, sondern überlässt ihnen die Entscheidung. Drei Tage zu Hause sind für ihn realistisch. „Es ist absurd“, so Pillen, „wenn Unternehmen, die digitale Dienste anbieten, ihre Leute zwingen, sich mit Bus, Bahn oder Auto ins Büro zu quälen.“ Klar ist jedenfalls, dass die CO2-Bilanz besser wird und die Reisekosten sinken.
Allerdings hat Corona auch Folgen, die den Befürwortern einer Verkehrswende weniger gefallen. Aus Angst vor Ansteckung meiden viele Menschen derzeit Busse und Bahnen, Anbieter öffentlicher Verkehrsmittel verzeichnen enorme Verluste. Andreas Knie, Mobilitätsforscher am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB), hält das allerdings für ein Übergangsphänomen: „Schon kurze Zeit, nachdem wir wieder annähernd die gewohnte Mobilität haben, wird der ÖPNV wieder in etwa den Anteil haben, den er schon vorher hatte “ Der sei allerdings zu gering. Deshalb müssten sich die Verkehrsbetriebe anstrengen, ihre Qualität zu verbessern. „Wenn der öffentliche Verkehr seine Anteile steigern will“, so Knie, müsse er Leute von Tür zu Tür befördern und sich offensiv für die digitalen Plattformen öffnen. Und außerdem müssten die Menschen eine gewohnte und innige Beziehung überdenken.
Die Liebe zum Kraftparkzeug
Ach, das Auto. Unser Auto. Ist es nicht eine der großartigsten Erfindungen der Menschheitsgeschichte? Nein, nicht der offene Motorwagen, mit dem es Bertha Benz nicht wieder zurück zu ihrem Carl geschafft hätte, wäre kein Apotheker mit dem nötigen Benzin zur Stelle gewesen. Sondern das allzeit startklare Mamataxi, die rasende Einkaufstasche, das Wohnzimmer auf Rädern, der Urlaubspackesel, der vollklimatisierte Mini-Konzertsaal mit Dolby Surround Sound und Subwoofern im Fußraum. Doch trotz solcher Premium-Technik made in Germany
ist es nicht perfekt. Den Überschwemmungen, Tornados oder Waldbränden, zu denen seine Abgase peu ä peu beitragen, hält selbst das robusteste Äsjuwie nicht stand.
Unserem Hang und Drang zum Kraftwagen tut das keinen Abbruch. Auch wenn allenthalben irgendein Sozio- oder Futurologe behauptet, das Automobil habe seine Zukunft hinter sich und die jungen Menschen machten sich gar nichts mehr aus ihm, ist davon auf Deutschlands Straßen noch nichts zu sehen. Knapp 48 Millionen Pkw waren zu Beginn dieses Jahres angemeldet. Allein 2019 wuchs der Bestand um rund 620 000 Stück. Im Main-Taunus-Kreis sind 796 Autos je 1000 Einwohner registriert, zuzüglich Motorräder und Nutzfahrzeuge. Nur Wolfsburg toppt den Rekord, aber die Stadt ist außer Konkurrenz. Privat- und Dienstwagen statistisch summiert, verfügt im Taunus beinahe jeder Führerscheininhaber über ein Auto.
Dabei benötigen die meisten Menschen die allermeiste Zeit gar keins. 23 Stunden am Tag, sagt der ADAC, ist das deutsche Automobil immobil. Je nach Perspektive ist es ein Kraftparkzeug, das nutzlos zehn und mehr Quadratmeter privaten oder öffentlichen Raums in Beschlag nimmt, oder eine Hightech-Maschine mit einer Auslastung von nicht mal fünf Prozent. In der einen Stunde, die sie in Betrieb ist, stößt sie jedoch so viel CO2 aus, als sei die seit Jahrzehnten andauernde Klimadebatte spurlos an den Autokäufern vorbeigegangen. Der Verkehr ist der einzige Sektor, in dem es den EU-Staaten nicht gelingt, ihre Emissionen zu senken, im Gegenteil. 2017 lagen diese um 170 Millionen Tonnen höher als 1990. Und die Hauptverursacher des Umweltproblems sind, international betrachtet, tatsächlich weder Flugzeuge noch schier endlose Lkw-Kolonnen noch die rußenden Containerschiffe, sondern der motorisierte Individualverkehr.
Das ist eine gute Nachricht. Sie bedeutet: Da wir als Bürger einer Autonation fast alle zum Problem beitragen, können wir mit etwas gutem Willen auch zu dessen Lösung beitragen. Ausgerechnet die Corona-Krise scheint sich dabei als hilfreich zu erweisen.
Die Fahrerei nervt
Im Personenverkehr und im Gütertransport gilt das Gleiche wie überall, wo sich Menschen bemühen, die Verbrennung fossiler Energieträger zu drosseln: Die Hoffnung auf eine große, universale Lösung trügt. So zeigt etwa ein Blick auf die Zulassungszahlen und die recht hohe Lebensdauer moderner Benziner und Diesel, dass es bei Weitem nicht reichen wird, diese nach und nach durch Elektromobile zu ersetzen und eine CO2-frei bewirtschaftete Lade-Infrastruktur aufzubauen. Um den Countdown der Klima-Uhr fürs 1,5-Grad-Celsius-Ziel (siehe Folge 2 dieser Serie „Smarte Energie“ in brand eins 06/2020) so gut wie möglich zu bremsen, müssen sehr bald auch die Emissionen derjenigen Autos drastisch sinken, die heute schon auf den Straßen sind und erst in 10,15 oder 20 Jahren verschrottet werden. Das Gute ist: Dafür bedarf es keiner Fahrverbote, es braucht auch niemand seinen Führerschein zurückzugeben.
Für den Einstieg genügt ein selbst gebasteltes Fahrtenbuch – samt der Bereitschaft, es nach einer Weile selbstkritisch auszuwerten und aus den Einsichten Konsequenzen zu ziehen. In dieses Protokoll gehören drei Spalten: Warum habe ich für die Fahrt das Auto genommen? War es den Stress, den Sprit und die Zeit wert? Hätte es eine Alternative zum eigenen Auto gegeben und wenn ja, welche? In Österreich lässt sich diese Frage jederzeit
in Echtzeit digital beantworten, bevor man sich auf den Weg macht – mittels der kostenlosen ÖBB-App „Wegfinder“. Sie zeigt zu beliebigen Start- und Zielpunkten alle aktuell verfügbaren Verkehrsmittel an, einschließlich Reisezeit- und Kostenvergleich mit dem eigenen Wagen. In Deutschland muss man dazu in den meisten Städten noch mehrere Apps starten.
Der Verkehrsforscher Andreas Knie ist überzeugt, dass viele Fahrer gern mal ihr Auto stehen lassen würden: „Tatsächlich geht den meisten Pendlern die viele Fahrerei echt auf die Nerven. Sie sagen, es ist ihnen eine Last geworden; noch ertragen sie sie, denn sie sind von klein auf an diese Art der Fortbewegung gewöhnt. Seit dem Wirtschaftswunder gehört „Auto“ zu den ersten Wörtern, die Kinder nach „Mama“ und „Papa“ lernen, Teenager lassen sich von ihren Eltern chauffieren. Das kommt nicht von ungefähr. Die Autoindustrie verdankt ihren Aufstieg einem Freiheitsversprechen: Fahre, wohin du willst, wann du willst, so weit du willst. Das Konzept der Automobilität steht seit jeher für Autonomie.“
Inzwischen holt die Realität den Autokäufer schon bei der Lektüre der Ausstattungsliste ein: Die wohl nützlichste Innovation der vergangenen zehn Jahre dürfte der Stau-Assistent gewesen sein, der das Fahrzeug wie ein Autopilot unfallfrei durchs Gedränge des großstädtischen Berufsverkehrs bugsiert. So gut das Auto für diejenigen ist, die darauf angewiesen sind, gibt es des Guten längst viel zu viel – mit der paradoxen Folge, dass der intensive Verkehr dem übermotorisierten Fuhrpark unerbittlich Grenzen setzt und die Mobilität regelrecht erstickt.
Zahlen? Bitte: Drei Viertel der verkauften Neuwagen schaffen mindestens Tempo 180, fast jeder zweite sogar 200. Doch auf Deutschlands Überholspuren fallen die Tachonadeln an einem ganz normalen Tag an die 2000 Mal auf 0. 2017 zählte der ADAC 723 000 Staus. An den schlimmsten Tagen maß der Autofahrerclub binnen 24 Stunden Gesamtlängen bis zu 10 000 Kilometer – auf einem Autobahn-Streckennetz von 13 000 Kilometern.
Die Autobahnstaus, die sich binnen eines Jahres allein durch Nordrhein-Westfalen quälen, entsprächen einer Fahrzeugschlange, die sich elfmal um den Äquator wickelt. Und das ist nur ein willkürlich herausgegriffenes Beispiel für die alltäglichen Autokolonnen, unter denen ganz viele Ballungsräume und Megacitys in Europa, Amerika und Asien ächzen. Das weltumspannende Phänomen brachte Kay W. Axhausen, Professor am Institut für Verkehrsplanung und Transportsysteme der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich, einmal trocken auf den Punkt, indem er den Straßenverkehr als „System sich selbst organisierender, bewegender Warteschlangen“ definierte.
Höchste Zeit also, sich darüber Gedanken zu machen, was das Schlagwort Mobilität eigentlich bedeutet.
Pendler können sich viel Verkehr ersparen
Anders als in der Schweiz, wo viele Menschen die Eisenbahn lieben, ist Mobilität in Deutschland fast zum Synonym fürs Autofahren geworden. Nur für etwa jeden siebten Kilometer, den sie in einem Fahrzeug zurücklegen, steigen die Deutschen in Bus oder Bahn. Während sie auf dem Land ohne Auto oft aufgeschmissen sind, meiden viele auch in der Großstadt öffentliche Verkehrsmittel. So hat Berlin mit 335 Pkw pro 1000 Einwohner zwar eigentlich die mit Abstand geringste Autodichte aller deutschen Städte, musste sich aber dennoch voriges Jahr den Titel „Stauhauptstadt“ gefallen lassen, weil seine Autofahrer 2018 durchschnittlich 154 Stunden im Stau gestanden hatten. Besser gesagt: Sie gerieten nicht in einen Stau, sie waren der Stau.
Sehr viel flotter vorangekommen wären diese Menschen in großen „Gefäßen“, wie Busse und Bahnen im Verkehrsplanerdeutsch heißen: Ein Gelenkbus okkupiert gleich viel Straßenraum wie vier neue VW Golf, die Stoßstange an Stoßstange stehen – 18 Meter. Ist er voll besetzt, erspart ein solcher Linienbus mit je rund 50 Sitz- und Stehplätzen einer Stadt im Berufsverkehr eine Autokolonne, die schon bei Tempo 30 mehr als einen Kilometer lang wäre. Denn die meisten Fahrer sitzen allein im Auto. Der mittlere Belegungsgrad liegt bei etwa 1,4 Personen. Der Wert wird unter anderem dadurch nach oben verzerrt, dass Eltern, die ihre Kinder durch die Gegend kutschieren, mitgezählt werden, obwohl sie selbst nirgendwohin wollen. Besonders niedrig ist der Belegungsgrad auf Dienstfahrten mit 1,1 und auf dem Weg ins Büro mit 1,2. Demnach nimmt nicht einmal jeder oder jede Fünfte, der beruflich unterwegs ist, jemanden mit.
Der Mobilitätsforscher Knie sieht daher bei den Berufspendlern ein großes Potenzial für Verkehrsvermeidung. Ein Großteil der Erwerbstätigen in Deutschland, rund 15 Millionen Menschen, wohnt mindestens zehn Kilometer von der Arbeitsstätte entfernt, sechs Millionen von ihnen sogar mehr als 25 Kilometer. Allein nach Berlin pendelt eine Drittelmillion Arbeitnehmer aus dem Umland. Diejenigen, die keine akzeptable Verbindung mit öffentlichen Verkehrsmitteln finden, könnten sich in digital organisierten Fahrgemeinschaften zusammentun. „Der Gedanke, andere mitzunehmen, ist auch Jüngeren durchaus vertraut“, sagt der Professor mit Blick auf die bei Studierenden beliebte Mitfahrzentrale Blablacar, die aus dem alten Prinzip „MFG gegen BKB“ (Mitfahrgelegenheit gegen Benzinkostenbeteiligung) ein Geschäftsmodell gemacht hat. „Es gibt auch schon Unternehmen, die für ihre Mitarbeiter solche Lösungen entwickeln, zum Beispiel SAP in Walldorf und Roche in der Schweiz “
Die Verdopplung des Belegungsgrades würde den CO2-Ausstoß des Berufsverkehrs und die Verkehrsdichte halbieren. Das wird möglich sein, wenn die Corona-Krise ausgestanden ist. Dass sich öffentlicher Personennahverkehr auch mit dauerhaft strengen Hygieneregeln vereinbaren lässt, zeigt unter anderem das Beispiel Japan. Von modernen Fahrgemeinschaften, wie sie Andreas Knie vorschweben, profitieren neben der Umwelt auch die Teilnehmer: Sie verschwenden weniger Lebenszeit im Stau und sparen viel Geld.
Der Soziologe glaubt, dass sich problemlos fünf Personen ein Fahrzeug teilen könnten – gerade weil jüngere Menschen dank der digitalen Medien gewohnt seien, sich unerwünschtem Small Talk zu entziehen. „Sie brauchen nicht mehr das eigene Auto als Schutzraum um sich. Wenn sie das mobile Internet bei sich haben, sitzen sie auch zu dritt hinten auf der Golf-Rückbank, ohne dass es ihnen zu eng und intim wird. Man hat Stöpsel im Ohr oder kann etwas lesen.“
Die Crux des Gruppentaxis
Manche Idee zur Verkehrsvermeidung funktioniert allerdings nur bedingt. So haben Andreas Knie und seine Kolleginnen am WZB kürzlich untersucht, wie die Angebote von Clever Shuttle angenommen werden. Das Unternehmen, das inzwischen zu 77 Prozent der Deutschen Bahn gehört – und seine Dienste corona-bedingt stark eingeschränkt hat -, betreibt App-gestützte Sammeltaxis. Die Idee solcher Ridepooling-Dienste ist, mit meist batteriebetriebenen Minivans mehrere Besteller zu einer Ad-hoc-Fahrgemeinschaft zu bündeln und umsteigefrei von A nach B zu fahren. Aus regulatorischen Gründen können sie nicht überall von Haustür zu Haustür fahren wie ein richtiges Taxi, aber zumindest zwischen zwei beliebigen virtuellen Haltestellen, die in der App hinterlegt sind.
Die ersten Erkenntnisse über die Nutzungsgewohnheiten sind ernüchternd. Entgegen der eigentlichen Intention rufen sich vor allem solche Fahrgäste ein Shuttle, die sonst mit Bus oder Bahn fahren würden; nur zehn Prozent der Interviewten haben tatsächlich ihr Auto stehen lassen. Pooling ist zwar immer deutlich teurer als ein Einzelfahrschein des Verkehrsverbundes, aber deutlich billiger als ein Taxi. Und das ist gerade in den Abend- und Nachtstunden mit den ausgedünnten Taktzeiten im Nahverkehr, wie die Kundenbefragung durch die WZB-Soziologen belegt, ein attraktiver Kompromiss. Bussen und Bahnen Fahrgäste abzujagen ist allerdings nicht Sinn der Sache.
Eine weitere Schwierigkeit besteht darin, dass alle diese Dienste – darunter der von der BVG angebotene Berlkönig und die in Hamburg und Hannover tätige VW-Tochter Moia – notgedrungen auch dann fahren, wenn gar keine Fahrgemeinschaft zustandekommt. Der Anteil der Fahrten mit mindestens zwei Bestellern lag bei Clever Shuttle im Untersuchungszeitraum unter 50 Prozent, die gemeinsame Fahrtzeit sogar unter 40 Prozent. Gut jedes zweite Mal hat also die Kundin quasi ein Taxi zum Schnäppchentarif. Hinzu kommt, dass die Shuttles pro gefahrenen Kilometer mit Passagieren weitere 800 Meter für An- und Abfahrt unterwegs sind. So wird kein Verkehr vermieden, im Gegenteil.
Nichts deutet darauf hin, dass es bei den anderen Diensten besser läuft. Als Moia-Fahrer in Hamburg sogar noch vorschriftswidrig Passagiere an Taxiständen einsammelten und zeitraubende Umwege fuhren, um partout noch einen zweiten Fahrgast in den Wagen zu kriegen, gingen Taxiunternehmer gegen die Betriebserlaubnis für Moia auf die Barrikaden, scheiterten aber vor Gericht. Die Kläger konnten nicht nachweisen, dass der Betreiber vorsätzlich die Regeln verletzt hatte.
Mitfahren in der Stadt und auf dem Land
Mittlerweile herrscht zumindest zwischen dem Bundesverband Taxi und Mietwagen und den Pooling-Anbietern Clever Shuttle, Moia und Viavan (BVG-Partnerfirma beim Berlkönig) eine Art Burgfrieden. Denn im Bundestag steht eine Novelle des Personenbeförderungsgesetzes an, die den bisher nur als Experimente gestatteten Fahrdiensten eine dauerhafte Rechtsgrundlage und damit Planungssicherheit verschaffen soll. Das gemeinsame Interesse der Zweckallianz: den aggressiven US-Konzern Uber aus dem Markt herauszuhalten, der bereits in London und Paris Ridepooling anbietet (bei Redaktionsschluss war der Service wegen Corona ausgesetzt). Entscheidender Knackpunkt ist die künftige Ausgestaltung der sogenannten Rückkehrpflicht. Ist ein Fahrzeug als Mietwagen eingestuft, muss es an den Betriebssitz zurückkehren, wenn kein weiterer Auftrag vorliegt.
Anfang Juni haben sich die Koalitionsfraktionen geeinigt, Pooling-Anbieter grundsätzlich von der Rückkehrpflicht auszunehmen und ihnen damit vermeidbare Leerfahrten zu ersparen. Je schneller die Sammeltaxis zur Stelle sind, desto attraktiver das Angebot. Immerhin 45 Prozent der von Professor Knies Team befragten Clever-Shuttle-Nutzer waren dafür grundsätzlich aufgeschlossen.
Ob sich Ridepooling etablieren kann, bleibt freilich abzuwarten. Jüngst wurde bekannt, dass der Deutsche-Bahn-Vorstand überlege, sein teures Engagement bei Clever Shuttle zu drosseln. Das WZB-Forscherteam geht jedoch davon aus, dass das Prinzip Sammeltaxi seine Stärken erst ausspielen kann, wenn erheblich mehr Fahrzeuge präsent sind. Die Novelle des Personenbeförderungsgesetzes soll, wie aus der Union zu erfahren war, auch einen Rahmen für kleinere Kommunen schaffen, in denen die Nachfrage keinen Bus-Linienverkehr hergibt. Dort könnten örtliche Taxi-Unternehmer einen, gegebenenfalls öffentlich bezuschussten, Poolbetrieb übernehmen.
Die Idee, mit anderen gemeinsam zu fahren, ist in der Provinz längst angekommen. So gehören im Landkreis Landsberg am Lech Mitfahrerbänke mittlerweile zum Ortsbild etlicher Dörfer. Wer mitgenommen werden möchte, klappt einfach am Haltestellenpfosten das Schild mit seinem Ziel heraus und wartet, bis eine freundliche Mitbürgerin anhält. In anderen Orten organisieren Ehrenamtliche Fahrdienste für Senioren der Umgebung. Bürgerschaftliches Engagement hilft vor allem außerhalb der Metropolen, wo eine aufs Auto fixierte Verkehrspolitik die Bewegungsfreiheit stark eingeschränkt hat.
Eins hat sich während der Corona-Krise auch gezeigt: Nicht jeder Pendler hat zu Hause sowohl die Ruhe zum Arbeiten als auch eine stabile Breitbandverbindung. Doch selbst dieses Problem ist lösbar. Kurz vor der Corona-Krise hatte die Mobilitätsinitiative MobiLL (LL steht für das Autokennzeichen von Landsberg/Lech) zu einer Podiumsdiskussion ins oberbayerische Windach eingeladen. Die Teilnehmer hatten die Idee, einen freien Raum als Coworking- Space einzurichten – ausgerechnet im örtlichen Autohaus. „
Brandeins 07/2020 Text: Ulf J. Froitzheim
PDF-Download: Brandeins (2020) Mobilität-Fortbewegung mit Sinn