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Die Verkehrswelt hat sich seit der Coronakrise deutlich verändert. Nach dem Shutdown und den Einschränkungen der Beweglichkeit sind die Verkehrsleistungen stark zurückgegangen, die beförderten Personen im Flug- und Bahnverkehr genauso wie im öffentlichen Personennahverkehr. Selbst der Autoverkehr ist deutlich geringer geworden. Gleichzeitig haben die Berliner*innen ihre Stadt ganz neu kennengelernt: ruhig und mit viel freiem Platz. Allerdings ist die für Berlin typische Vielfalt an Sharing-Angeboten, On-Demand-Services und anderen App-basierten Dienstleistungen fast ganz verschwunden und kommt nur sehr langsam wieder zurück. Mit der Lockerung der Einschränkungen Ende April zeigen die Zählstellen der Senatsverwaltungen eine deutliche Steigerung des Fahrzeugverkehrs auf fast das Niveau der Vormonate. Es wird deutlich, dass auch in der Krise der „motorisierte Individualverkehr“ (MIV) selbst in Berlin immer noch dominiert.

Dieser automobile Massenverkehr gefährdet aber die Gesundheit durch Luftverschmutzung und Lärm, er ist in hohem Maße klimaschädlich, vermindert drastisch die Aufenthaltsqualität in den öffentlichen Räumen der Stadt, blockiert Flächen für andere Nutzungen wie für Wohnen, Grünanlagen, Fahrradfahren, Zufußgehen und ist ursächlich für eine hohe Zahl von Verkehrsunfällen. Bei fehlender Gegensteuerung werden sich diese Probleme in Zukunft gerade auch in Berlin weiter verschärfen. Das lässt sich an der steigenden Zahl der registrierten Personenkraftwagen (Pkw) sowie am wachsenden Anteil der Einpendler, die ausschließlich den Pkw nutzen, erkennen.

Gleichzeitig hat die Krise gezeigt, dass die Alternativen zum privaten Pkw, wie der öffentliche Nahverkehr sowie die Sharing- und Plattformangebote, ohne eine höhere finanzielle Unterstützung des Landes nicht in der gewünschten Qualität angeboten werden können. Die dafür notwendigen zusätzlichen finanziellen Unterstützungsleistungen sind aber im Landeshaushalt nicht abgebildet. Die City-Maut als Finanzierungsquelle für den Öffentlichen Personennahverkehr (ÖPNV) kann deshalb einen wichtigen Beitrag zur Steigerung der Mobilitätsqualität in der Stadt leisten.

Eine wirksame Verkehrswende ist zudem nur möglich, wenn sich das Verhalten der Verkehrsteilnehmer*innen verändert. Auch dazu kann eine City-Maut in erheblichem Umfang beitragen.

Nach allen vorliegenden Erfahrungen aus dem Ausland (London, Stockholm, Mailand, Oslo etc.) ist eine Bepreisung der Straßenbenutzung durch Fahrzeuge eine wirksame Maßnahme, um eine Verkehrswende in einer Stadt herbeizuführen. Das übergeordnete Ziel einer City-Maut sollte es sein, die Mobilitäts- und Lebensqualität in Berlin deutlich zu verbessern und die negativen Umweltwirkungen des Verkehrs zu verringern.

Gleichzeitig kann und muss eine City-Maut so ausgestaltet werden, dass sie sozialverträglich ist und einen Beitrag zur Flächengerechtigkeit in unserer Stadt leistet.

Nach internationalen Erfahrungen können mit einer City-Maut – je nach Ausgestaltung – folgende Ziele erreicht werden:

  • nachhaltige Veränderung des Verkehrsverhaltens mit der Folge einer erheblichen Steigerung des Anteils des Umweltverbundes am Modal-Split;
  • signifikante Verringerung der verkehrsbedingten Belastungen für Umwelt und Klima (Kohlenstoffdioxid (CO2)-Ausstoß, Feinstaub- und Stickstoffemissionen, Lärmbelastungen);
  • erhebliche Verbesserung der Verkehrssicherheit durch Verringerung der Zahl der Verkehrsunfälle, der Verkehrsverletzten und der Verkehrstoten;
  • Schaffung von neuen Potenzialen für eine Umnutzung des öffentlichen Raums und einer Steigerung der Aufenthaltsqualität;
  • Optimierung der Verkehrssteuerung und des Verkehrsmanagements in der Stadt, weil die City-Maut flexibel nach Tageszeiten, Räumen, Luftbelastungs- und Verkehrslagen differenziert werden kann;
  • Erschließung neuer Finanzierungsquellen zum weiteren Ausbau des ÖPNV sowie ergänzende Angebote wie Sharing und Ridepooling als Alternativen zum MIV.

Eine City-Maut könnte vom Berliner Senat im Rahmen eines Modellversuches temporär eingeführt und umfänglich getestet werden.

Ein Modellversuch bietet die Chance, wissenschaftliche Erkenntnisse über die Auswirkungen einer City-Maut zu gewinnen, verschiedene Ausgestaltungsvarianten der City-Maut zu erproben, eine breite öffentliche Diskussion in Berlin über die City-Maut zu stimulieren und damit belastbare Grundlagen für künftige politische Entscheidungen über die Grundsatzfragen der Berliner Mobilitätspolitik zu schaffen.

Dieser Modellversuch könnte als ein „Reallabor“ ausgestaltet und damit so angelegt werden, dass die mobilitätspolitische Innovation „City-Maut“ in Berlin mit breiter Beteiligung der Berliner*innen in einem ergebnisoffenen Experimentierfeld erprobt wird.

City-Maut Berlin 2021 / 26. Juni 2020
Das folgende Papier ist das Ergebnis einer mehrmonatigen Diskussion der City-Maut-Initiative Berlin. In dieser Initiative haben sich Personen zusammengefunden, denen die Verkehrswende ein großes Anliegen ist und die aus unterschiedlichen Interessen heraus die Diskussion um eine City-Maut in Berlin voranbringen wollen. Das Papier ist allein in der Verantwortung der genannten Autoren entstanden und wird von keiner Institution, Organisation oder Unternehmung verantwortet.

PDF-Download City-Maut Berlin 2021 / Non-Paper zur Einführung einer City-Maut

City-Maut-Initiative Berlin / Autoren:
Andreas Knie & Weert Canzler
Robin Tech
Hans Gerd Prodoehl
Silke Bustamante
Markus Abel

Foto: © G-Stock Studio / Shutterstock

Juni 2020. Der Verkehr in der hessischen Landeshauptstadt nimmt seit Jahren zu und damit auch die Lärm- und Schadstoffbelastung für Bürgerinnen und Bürger. Alle Verkehrsprognosen für Wiesbaden zeigen: Wir können nicht einfach nichts tun. Denn sonst stehen wir ziemlich bald vor einem Verkehrskollaps. Schon heute droht Wiesbaden zu den Stoßzeiten am Verkehr zu ersticken. Die gemessenen Schadstoffwerte führen uns das tagtäglich schmerzhaft vor Augen. Wir spüren in Politik und Verwaltung den Handlungsdruck, so dass wir bereits auf ein drohendes Dieselfahrverbot im September 2018 mit einem umfassenden Maßnahmenplan reagiert haben. Wir müssen aber noch mehr tun und wir müssen es gemeinsam tun. Die teils sehr hitzigen Diskussionen um neue Verkehrsprojekte zeigen, dass wir einen Austausch in der Stadtgesellschaft darüber brauchen, wohin sich unsere Mobilität in den nächsten Jahren entwickeln soll. Daher haben wir den Mobilitätsleitbildprozess gestartet, den das Stadtparlament mit großer Mehrheit beschlossen hatte. Wir haben etwas Neues probiert, und es hat sich gelohnt. Der Leitbildprozess ist in seiner Herangehensweise und Tiefe einmalig in Deutschland. Es ist unheimlich viel Expertenwissen zu Zukunftsthemen eingeflossen, wir haben zu wichtigen Verkehrsfragen neue Fachgutachten innerhalb des Prozesses beauftragt.

Zudem haben wir auf das Wissen von rund 80 Wiesbadener Organisationen aus den verschiedensten gesellschaftlichen Bereichen gesetzt: Wir haben sie eingeladen, das Moblitätsleitbild für die Landeshauptstadt Wiesbaden selbst zu erarbeiten. Für die Stadtpolitik bedeutete dies, auch einmal loslassen zu können, indem wir Bürgerinnen und Bürger gestalten lassen. Wir haben Verantwortung übertragen, und der Großteil der eingeladenen Organisationen hat mit ihren Vertreterinnen und Vertretern diese Verantwortung gerne übernommen. Ihnen gilt mein besonderer Dank. Denn durch ihr zeitliches und inhaltliches Engagement ist ein Mobilitätsleitbild entstanden, das uns den Weg weist, wohin wir unsere Mobilität in den kommenden 10 bis 20 Jahren entwickeln sollen. Die Frage „Was wollen wir?“ ist mit diesem hier vorliegenden Leitbild mit konkreten Umsetzungsvorschlägen beantwortet. Und ich gebe gerne zu, dass ich sehr angetan war, wie respektvoll die Teilnehmerinnen und Teilnehmer miteinander umgegangen sind. Trotz teilweise sehr unterschiedlicher Anschauungen gab es für die meisten vorgeschlagenen Maßnahmen einen Konsens unter den Teilnehmerinnen und Teilnehmern. Denn – so habe ich das wahrgenommen – alle Beteiligten hatten ein Ziel vor Augen, nämlich Wiesbaden lebenswerter zu machen. Packen wir es also an!

Andreas Kowol
Dezernent für Umwelt, Grünflächen und Verkehr der Landeshauptstadt Wiesbaden

Präambel – Wiesbaden verändert sich

Klimakrise, Digitalisierung und demografischer Wandel stellen große und globale Herausforderungen für die modernen Gesellschaften dar. Besonders im Brennpunkt stehen die Städte. Hier entscheidet sich, ob mit technischen und mit sozialen Innovationen die Probleme angemessen bearbeitet und neue Lösungen gefunden werden können. Wiesbaden möchte sich diesen Herausforderungen in besonderem Maße stellen. Denn Wiesbadens Innenstadt verfügt wie nur wenige Großstädte in Deutschland über eine kompakte Struktur mit historisch wertvoller Bausubstanz. Die Stadt entwickelt sich in einem wirtschaftlich prosperierenden Umfeld mit sehr engen Verflechtungen im Ballungsraum Rhein-Main. Wiesbaden ist sich bewusst, viele Jahrzehnte Planungsprinzipien gefolgt zu sein, die den Stadtraum funktional gegliedert und die Bereiche Wohnen, Arbeiten, Einkaufen und Kultur räumlich weit auseinandergezogen haben. Nach diesen Planungen und dem daraufhin entstandenen baulichen Umfeld wurde dem Automobil eine sehr große Bedeutung eingeräumt und die Stadt primär als ein Transitraum begriffen. Der öffentliche Verkehr, die Fahrradinfrastruktur und der Fußverkehr erhielten in diesen Jahren eine weniger hohe Priorität. Wiesbaden möchte dies verändern und im Rahmen der kommunalen Möglichkeiten eine Stadt entwickeln, die mit kurzen Wegen ein Höchstmaß an Erreichbarkeit und Zugänglichkeit schafft. Die hessische Landeshauptstadt bekennt sich zur individuellen Mobilität in einer freiheitlichen Grundordnung und möchte dazu aber neue Wege gehen und die Stadtgesellschaft zum Treiber dieser Transformation machen.

Die Stadt will gewährleisten, dass dies in einer modernen, zukunftsfähigen Form geschehen kann. Wiesbaden möchte die veränderten Wertepräferenzen sowie die Herausforderungen einer nachhaltigen Wirtschaft zu einer neuen Gestaltungskraft für den Stadtraum kombinieren und nutzen. Wiesbaden wird sich dabei verändern und Korrekturen an früheren Planungsgrundsätzen vornehmen. Die Mobilität soll dabei umfassender, vielfältiger verstanden werden, die Aufenthaltsqualität erhöht, die Ressourcen geschont und die Raumaufteilung gerechter werden. Oberstes Prinzip bei der Planung der Verkehrswege ist die Effizienz des Transportes. Der öffentliche Raum wird so gestaltet, dass zu Fuß gehen und Radfahren eine neue Qualität erleben. Der öffentliche Verkehr mit Bussen und gegebenenfalls Bahnen erhält Vorfahrt, die Angebotsqualität wird durch flexible Ergänzungen so erhöht, dass Punkt-zu-Punkt-Verkehre möglich werden. Wiesbaden bekennt sich dazu, dass in einer lebenswerten Stadt weniger öffentlicher Parkraum für private Nutzungen vorgehalten wird. Motorisierte Individualverkehrsmittel sind in der Nähe und in allen Qualitäten im Sharing-Modus verfügbar. Hohe Flexibilität und Individualität werden mit einer hoch effizienten Flächennutzung verbunden. Alle Verkehrsmittel sind durchgängig digital verfügbar und fahren zunehmend mit regenerativen Energien. Mit einem Klick sind alle Optionen sofort und barrierefrei nutzbar. Für die Pendler werden Abstellgelegenheiten am Rande der Stadt geschaffen.

Um diesen Prozess anzuschieben, hat die Stadt gemeinsam mit Bürgerinnen und Bürgern und der Wissenschaft einen Leitbildprozess initiiert und entlang der Querschnittsthemen „Urbanisierung“, „Gesundheit“, „Sicherheit“ und „Konnektivität“ eine Bestandsaufnahme erarbeitet und gemeinsame Planungsprinzipien entwickelt.

Wiesbaden bekennt sich zu Toleranz, zur Weltoffenheit und zur Vielfalt der Möglichkeiten. Die Rückgewinnung von mehr Aufenthaltsqualität wird dabei nicht ohne Veränderungen von Routinen und Gewohnheiten einhergehen, der Prozess des Umbaus auch nicht über Nacht gelingen. Wiesbaden verfügt über eine Stadtgesellschaft, die Veränderungen aber als Chance begreift, um mit den neuen digitalen Optionen auch tradierte Denk- und Handlungsmuster zu überwinden und damit auch ein neues städtisches Selbstwertgefühl zu schaffen. Allen Beteiligten ist dabei bewusst, dass tradierte Denkschemata und eingeschwungene und stabilisierte Routinen diesen Wandel blockieren und erschweren können, dass unterschiedliche Interessen existieren und Konflikte unausweichlich sind.

Aber aus der Einsicht in die Notwendigkeit des Wandels zur Erhaltung unserer Lebensgrundlagen wird dies als eine Chance für alle begriffen. Wiesbaden lädt seine Bewohner, seine Gäste und seine Nachbarn ein, hieran in einem offenen Prozess mitzuwirken und die Rückgewinnung des Stadtraumes als ein Gemeinschaftswerk für mehr Lebensqualität zu verstehen und voranzubringen. Es ist Zeit, sich zu verändern.

PDF-Download Mobilitätsleitbild für die Landeshauptstadt Wiesbaden

Autorinnen und Autoren
Prof. Dr. Andreas Knie / Dipl.-Ing. Ina-Marie Orawiec / Prof. Dr. Petra K. Schäfer

Grafik: Kristin Rabaschus

Oktober 2020. Gibt es wegen der Coronakrise und ihrer Folgen eine Art Renaissance des Autos im Stadtverkehr? Mit einer Studie und einer Online-Debatte versuchte der Thinktank Agora Verkehrswende darauf eine Antwort zu geben.

„Leere Straßen, leere Bahnen, leere Busse – so was kannten wir nicht.“ Das sagte Christian Hochfeld, Chef von Agora Verkehrswende, kürzlich in eine Kamera, als er auf den Lockdown im Frühjahr zurückblickte. Anlass war eine Online-Debatte über die neueste Studie des Thinktanks zu einer Mobilitätswende in der Stadt.

Auch wenn ein neuer Lockdown möglich scheint – die große Leere droht nicht mehr. Denn inzwischen haben die Menschen, zeigt die Studie, ihr Mobilitätsverhalten umgestellt. Als Gewinner der Krise zeigt sich der Individualverkehr, und zwar gleichermaßen zu Fuß, mit dem Rad – mit der Einschränkung „in den Städten“ – und mit dem Auto.

Im Lockdown brach die Entfernung, die jede Person täglich zurücklegt, auf ein Drittel ein. Aber schon im Mai und im Juni erreichte der sogenannte „Wegezweck Einkauf“ wieder das Entfernungsniveau von vor der Corona-Krise. In der Krisenzeit sank zugleich die ohnehin geringe Auslastung der Pkw noch weiter, ergab die Studie.

Klarer Krisen-Verlierer ist der öffentliche Verkehr. Von einer Änderung der verkehrlichen Verhältnisse kann auch Anke Borcherding vom Verkehrswendebüro des Wissenschaftszentrums Berlin (WZB) hier nichts erkennen.

„Wer in den Städten oder im Speckgürtel beispielsweise von Berlin unterwegs ist, sitzt in der Regel in Sardinenbüchsen wie auch schon vor Corona: überfüllte U-, S- und Regionalbahnen. Die innerstädtischen Radwege sind zu den Stoßzeiten komplett zu eng. Der Autoverkehr hat offenbar das Vor-Corona-Niveau erreicht. Alles leider wie immer“, konstatiert die Expertin gegenüber Klimareporter°.

War’s das schon mit dem Traum von der Mobilitätswende, fragte seinerseits Christian Hochfeld und beschrieb die vertrackte Lage: Die einen sagten nun, wir steigen jetzt wieder ins sichere, jedenfalls vor Viren sichere Auto, die anderen sagten, wir müssen uns jetzt erst recht für eine Mobilitätswende einsetzen.

Auch wenn Hochfeld die zweite Antwort wählt und die Verkehrswende hochhält: Der Weg, um von einer autogerechten zu einer menschengerechten, lebenswerten Stadt zu kommen, ist offenbar noch schwieriger geworden, als er es ohnehin war. Wer will jetzt zum Beispiel ernsthaft Maßnahmen ergreifen, um den Autoverkehr einzuschränken?

„Zu zaghaft“

Dass BMW wegen Corona auch mehr Autos verkauft, wollte Thomas Becker vom Autokonzern in der Online-Debatte nicht bestätigen. Der Nachfrageschub halte sich in „sehr engen Grenzen“, sagte der Manager.

Wer sich ein Auto zulegte, habe eher ein gebrauchtes gekauft. Dank der politischen Maßnahmen sehe BMW aber eine beschleunigte Nachfrage nach Elektroautos. Das sei der Corona-Effekt.

Ein Drittel der Leute, die zurzeit Auto fahren, müssten dies weder tun noch wollten sie es, umriss Becker den Umfang der Umsteigewilligen. Diesen Autonutzern seien aber einfach die Alternativen nicht attraktiv genug. Sie bräuchten verbesserte Angebote – wobei der Automanager hier eher an Dinge wie Carsharing oder Ridepooling denkt.

Stefan Genth vom Handelsverband Deutschland (HDE) konnte mit dem Adjektiv „menschengerecht“ für den Stadtverkehr nicht viel anfangen, er sprach lieber von einer „kundengerechten“ Stadt. Wolle man in den Innenstädten das Einkaufen weiter haben, müsse man die Kunden mitnehmen, sagte Genth – er sei da auch „kein Freund von Verboten“.

Nach Ansicht von Hilmar von Lojewski vom Deutschen Städtetag schießt sich der Handel aber ein bisschen ins Knie, wenn alle mit dem Auto vor dem Laden vorfahren wollen. U-Bahn, Rad- und Fußverkehr kippten mehr Leute vor die Türen des Einzelhandels, entgegnete der Raumplaner. „Man muss dem Auto tatsächlich wieder aktiv Räume entreißen, das ist durchaus ein politischer Kampf.“

Anke Borcherding vom Verkehrswendebüro bewertete die Lage ähnlich: „Die Flächen müssen zulasten des Autoverkehrs und zugunsten von Zu-Fuß-Gehenden und Radfahrenden neu aufgeteilt werden.“ Der ruhende Verkehr beanspruche nahezu kostenlos und völlig unproduktiv öffentliche Flächen und der fließende belaste Umwelt und Menschen, sagte sie. „Die Verkehrswende kann nur gelingen, wenn das Leitbild der autogerechten Stadt endlich aus den Köpfen verschwindet.“

Nach Borcherdings Einschätzung macht die vorgelegte Agora-Studie zwar „nichts falsch – aber leider auch nichts wirklich gut“. Das zeige sich besonders an der Zaghaftigkeit der sieben Leitlinien (siehe unten).

Eher zaghaft nähert sich die Studie denn auch der Frage, wie die Krise des öffentlichen Verkehrs bewältigt werden kann. Hier richtet sich die Hoffnung vor allem auf einen Digitalisierungsschub im ÖPNV, etwa auf elektronische Tickets. Nutzer könnten dann zum Beispiel auch volle Busse oder Bahnen meiden.

Offensichtlich muss der öffentliche Verkehr erst einmal Vertrauen in seine Sicherheit zurückgewinnen. Verkehrsbetriebe müssten mehr in Hygiene investieren, fordert die Studie – und das bei weniger Fahrgästen und dadurch weniger Einnahmen.

Eigentliches Ziel bleibe aber ein Ausbau des Angebots. Die Studie sieht hier Bund und Länder in besonderer Verantwortung, um neben den Eigenmitteln der Kommunen für eine solide Kofinanzierung aus Steuermitteln zu sorgen.

City-Maut oder Auto-Maut?

Die WZB-Expertin hat da eine andere Idee. „Die Digitalisierung kann in den Städten genutzt werden, um eine ökologische und sozial verträgliche City-Maut einzuführen, die auch die Verkehrsströme steuert“, schlug Borcherding vor.

An einer City-Maut schieden sich in der Online-Debatte allerdings die verkehrspolitischen Geister. BMW-Mann Becker lehnte eine Pauschallösung wie in London ab, die spontane Einkäufer genauso belaste wie beispielsweise Taxibetriebe.

Handelsexperte Genth fragte sich, warum er beim Einkauf in der Stadt eine Maut bezahlen solle, beim Einkauf im Internet aber nicht – das sei paradox. Für ihn ist die Debatte völlig überflüssig: Wer eine City-Maut wolle, solle besser gleich sagen, „dass er keinen Handel in der Stadt haben will“.

Aber auch Hilmar von Lojewski betonte, dass der Städtetag kein Verfechter einer City-Maut sei. „Wir sehen darin keinen Königsweg.“ Wenn eine Kommune das probieren wolle, solle sie das tun. Gegenwärtig gehe es aber vor allem darum, die Finanzen schnell zugunsten des Nichtautoverkehrs umzuschaufeln. Man könne da nicht noch einmal zehn Jahre mit Experimenten verbringen.

Von Lojewski sprach sich in dem Zusammenhang für eine Art umfassender Auto-Maut aus, die europa- oder zumindest bundesweit alle Straßen je nach Zeit, Raum und Transportmittel bemautet.

Dann werde es mit dem Auto eben teurer, frühmorgens um sieben in die Innenstadt zu fahren – aber deutlich billiger, in einer verkehrsarmen Zeit von Dorf A nach Dorf B zu kommen. „So kann man Verhalten steuern.“

Sieben Leitlinien

Agora Verkehrswende und mehrere Verbände und Institute empfehlen auf Basis der Studie sieben Leitlinien zur Gestaltung des Stadtverkehrs:

  • Kommunen sowie Bund und Länder nutzen die Corona-Krise als Chance, den Stadtverkehr krisenfest und klimagerecht zu gestalten.
  • Ein krisenfester und klimagerechter Stadtverkehr stärkt die Stadt als attraktiven Lebens- und Wirtschaftsraum.
  • Öffentliche Verkehrsunternehmen gewinnen Fahrgäste zurück und bauen ihr Angebot mit Hilfe von Bund, Ländern und Kommunen aus.
  • Die Digitalisierung im Verkehr wird forciert und dafür eingesetzt, Verkehrsströme zu optimieren und umweltfreundliche Mobilität zu stärken.
  • Fuß- und Radverkehr bekommen mehr Platz, weil sie besonders nachhaltig sind und sich in der Pandemie bewährt haben.
  • Politik und Verwaltung sind bereit, vermehrt Experimente zu wagen, Innovationen aufzugreifen und Verfahren zu beschleunigen.
  • Bund und Länder sorgen für bessere Rahmenbedingungen und mehr Finanz- und Personalressourcen für die Mobilitätswende.

Kurswechsel: So gelingt die Verkehrswende

Der Verkehr erreicht seine Klimaziele nicht – in fast 30 Jahren sind die CO2-Emissionen des Sektors um kaum ein Prozent gesunken. Die Verkehrswende braucht es aber auch, damit Städte mehr Lebensqualität gewinnen und die Belastungen durch Lärm und Schadstoffe sinken. Klimareporter° stärkt deshalb – in Kooperation mit dem Verkehrswendebüro des Wissenschaftszentrums Berlin – den Fokus auf Verkehrsthemen und berichtet in einer Serie über Hemmnisse bei der Verkehrswende und über Lösungen für eine nachhaltige, zukunftsfähige Mobilität.

Klimareporter° Beitrag von Jörg Staude / Serie Kurswechsel

Foto: CleverShuttle

08.10.2020. WZB-Forscher Andreas Knie mahnt Unterstützung für die Carsharing- und Poolingbranche an, die sich sonst von den Folgen der Krise nicht mehr erholen werde. Er fordert ein Ende des kostenlosen Parkraums.

Der Mobilitätsforscher Prof. Dr. Andreas Knie vom Wissenschaftszentrum Berlin (WZB) hat eine dringende Unterstützung für die Pooling- und Carsharing-Branche angemahnt. Diese werde sich nicht mehr von der Corona-Krise erholen, wenn nichts geschehe, warnte der Wissenschaftler in einem Interview mit der Online-Plattform Klimareporter°. Ende dieses Jahres würden Berlkönig, Clevershuttle, Moia oder auch Share Now völlig verschwunden sein, prognostiziert Knie. Aus seiner Sicht sei der öffentliche Raum klar definiert.

„Das private Auto kann überall umsonst parken und die Straßen damit blockieren. Sharing- und Poolingkonzepte sind gewerbliche Angelegenheiten und müssen dafür teuer bezahlen. Es muss aber genau umgekehrt sein“, so Knies Plädoyer.

Er forderte eine völlig neue Straßenverkehrsordnung mit einer klaren Botschaft: „Private Autos können nicht länger auf öffentlichen Straßen geparkt werden. Das wäre ein riesiger Schub für neue Dienste“, glaubt der Wissenschaftler, der auch im Beirat des Bundesverbands eMobilität e.V. (BEM) sitzt.

Foto: ©2020 CYMAGE MEDIA / Christian Heep

04.10.2020. Die deutschen Autokonzerne haben in den strategischen Zukunftsfragen komplett versagt und den Kontakt zur Wirklichkeit verloren, sagt Andreas Knie, Sozialwissenschaftler, Mobilitätsforscher, Mitglied des Herausgeberrats von Klimareporter° und Fachbeirat des Bundesverbands eMobilität e.V. (BEM). Im Interview mit dem unabhängigen Online-Magazin Klimareporter schildert er seine Prognose. Geschieht politisch nichts, wird sich die Carsharing- und Poolingbranche nicht mehr von der Coronakrise erholen.

Klimareporter°: Herr Knie, Verkehrsminister Andreas Scheuer (CSU) hat erstmals vor einem Bundestagsuntersuchungsausschuss zur gescheiterten Pkw-Ausländer-Maut ausgesagt. Die ist nicht das einzige Debakel seiner Ministerkarriere. Was waren Scheuers „Worst-ofs“?

Andreas Knie: Eine vollständige Liste wäre zu lang. Das Schlimmste war die Idee, die Autos, die mit manipulierten Abgasreinigungsanlagen unverkäuflich sind, mit Steuermitteln hoch zu rabattieren, denn, so der Minister: »Die Autos müssen ja vom Hof.«

An Nummer zwei kommt, den über viele Jahre diskutierten und dann verschärften Bußgeldkatalog der Straßenverkehrsordnung einfach zu blockieren und damit faktisch einen Freifahrtschein für Raser in der Stadt zu erteilen.

Auf Nummer drei setze ich die beständige Weigerung des Ministers, endlich das längst überfällige generelle Tempolimit auf den deutschen Autobahnen einzuführen.

Klimareporter°: Anders als Tesla schaffen es deutsche Autohersteller wie VW, BMW oder Daimler nicht, eine vernünftige Ladeinfrastruktur für Elektrofahrzeuge aufzubauen. Auch Studien attestieren Chaos und Intransparenz. Woran scheitert ein einfaches, einheitliches Ladesystem?

Andreas Knie: Die deutschen Automobilkonzerne haben in allen strategischen Zukunftsfragen komplett versagt. Es sind Männer, die sich mit anderen alten Männern absprechen und dabei völlig aus der Zeit gefallen sind.

Sie reißen damit eine ganze Branche in den Abgrund, verdienen aber selbst ganz prächtig dabei. Weder konnten neue Antriebe in einer nennenswerten Weise auf die Straße gebracht werden, noch wird an alternativen Verwendungen von Automobilen – Stichwort Carsharing – gearbeitet oder das eigentliche Thema der Branche, nämlich das autonome Fahren, angegangen.

Die deutschen Autobauer haben sich zu einer Wagenburg formiert und den Kontakt zur Wirklichkeit verloren. Wie sagte es neulich ein Kabarettist so trefflich: Die deutsche Autoindustrie funktioniert wie die katholische Kirche und Elon Musk ist Martin Luther.

Klimareporter°: Corona hat die Mobilität verändert, die Zahl der zurückgelegten Wege ist zurückgegangen. Darunter haben auch Sharing-Mobilitätsdienste gelitten, etwa der Sammeltaxi-Dienst Clevershuttle, der in mehreren Städten zumachen musste. Kann sich die Branche davon erholen, oder was braucht sie dafür von der Politik?

Andreas Knie: Die Sharing- und Poolingbranche wird sich nicht mehr erholen, wenn politisch nichts geschieht. Ende dieses Jahres werden Berlkönig, Clevershuttle, Moia oder auch Share Now völlig verschwunden sein.

Denn der öffentliche Raum ist klar definiert. Das private Auto kann überall umsonst parken und die Straßen damit blockieren. Sharing- und Poolingkonzepte sind gewerbliche Angelegenheiten und müssen dafür teuer bezahlen. Es muss aber genau umgekehrt sein!

Wir brauchen also eine völlig neue Straßenverkehrsordnung mit einer klaren Botschaft: Private Autos können nicht länger auf öffentlichen Straßen geparkt werden. Das wäre ein riesiger Schub für neue Dienste.

Klimareporter°: Und was war Ihre Überraschung der Woche?

Andreas Knie: Die Flugzeuge bleiben tatsächlich mehrheitlich am Boden. Der Luftverkehr erholt sich weder im Inland noch im Ausland. Die Branche lernt um und viele Flughäfen müssen sich komplett neu erfinden.

Klimareporter° / Fragen: Susanne Schwarz

Das Interview ist im Original hier nachzulesen
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