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Ein Beitrag von Andreas Knie

Wie gehen wir mit Risiken um? Abwägung ist die Kunst der Stunde. Doch dies geschieht in unserer Gesellschaft auf höchst unterschiedliche Weise. Kein Politiker traut sich dieser Tage, etwas gegen die Warnungen der Virologen und Epidemiologen zu sagen oder gar durchzusetzen. Ob Ausgangssperren, Schulschließungen, Verbot von Kultur- und Sportveranstaltungen oder die Frage, wann Spielplätze wieder geöffnet werden können: Hinter diesen politischen Entscheidungen stehen die Aussagen der Virologen. Auch wir, die Normalbürger*innen, fügen uns und haben die Kontaktsperren und Abstandsmahnungen, das Händewaschen und Maskentragen schon fest im Alltag eingebaut. Weil wir und die Politiker*innen den Experten vertrauen, konnte die Zahl der Infizierten, Schwerstkranken und der Toten in Deutschland bisher eingedämmt werden. Die Gesellschaft ist offensichtlich zu ungeheuren finanziellen Opfern und Einschränkungen von Grundrechten bereit, um weitere Todesfälle zu vermeiden.

In anderen Politikfeldern sieht der Umgang mit Risiken und das Vertrauen auf Expertenmeinungen dagegen ganz anders aus: Im Straßenverkehr starben 2019 alleine in Deutschland mehr als 3.000 Menschen direkt an den Folgen eines Verkehrsunfalls; knapp 400.000 wurden verletzt. Zwar konnte die Zahl der Verkehrstoten, die Mitte der 1960er-Jahre noch bei über 20.000 lag, in den letzten Jahrzehnten durch Geschwindigkeitsbegrenzungen innerorts und auf Landstraßen, durch Gurtpflicht und die Absenkung der Promillegrenze deutlich gesenkt – aber eben nicht auf null gebracht werden. Wer sich in den Straßenverkehr begibt, geht immer das Risiko ein, getötet zu werden – auch ohne eigene Schuld und bei aller Regelkonformität.

Jenseits von politischen Maßnahmen gibt es keinen Wunder wirkenden „Impfstoff“ gegen den Tod im Straßenverkehr. Wir haben uns an das Risiko gewöhnt; es ist Teil einer stillschweigend akzeptierten Praxis geworden. Offenkundig sind wir als Gesellschaft bereit, für die Verteidigung unserer Bewegungsfreiheit Jahr für Jahr 3.000 Menschen – das entspricht der Einwohnerzahl einer kleinen Stadt – sterben zu lassen und eine weitere Zahl von Menschen in der Größenordnung einer Großstadt teils schwere Verletzungen erleiden zu lassen. Diese Form der Bewegungsfreiheit wird immer wieder und ganz offensiv verteidigt; die Unfälle im Unterschied zu den Covid-19-Todesfällen werden als Einzelfälle und nicht als Großereignis wahrgenommen. Die Statistiken tauchen nicht täglich in den Medien auf, sondern nur maximal einmal im Jahr.

Dabei könnte die Zahl der Unfalltoten und Schwerverletzten deutlich gesenkt werden, wenn auch in diesem Fall den Experten vertraut würde und der politische Wille zur Umsetzung vorhanden wäre. Doch was in der Corona-Krise so gut funktioniert, klappt bei der Verkehrspolitik überhaupt nicht. Denn das würde bedeuten, endlich den Unfallexperten Gehör zu schenken und ein flächendeckendes Tempolimit von 30 km/h in der Stadt, von 80 km/h auf Landstraßen und von 130 km/h auf den Autobahnen einzuführen. Letzteres hat der Deutsche Bundestag im letzten Herbst noch mit großer Mehrheit abgelehnt, obwohl Deutschland der einzige demokratische Staat der Welt ohne Tempolimit ist. Offensichtlich ist sich hier unsere Gesellschaft einig, dass die freie Fahrt in diesem Fall Tote und Verletzte kosten darf. Dabei wäre, folgte man der Logik des in der Corona-Krise weithin akzeptierten Wunsches, die Kurve der Todesfälle abzuflachen, eine Verschärfung der Tempolimits auf den Straßen und auf den Autobahnen das Ergebnis einer klugen Abwägung zwischen dem Wunsch nach unbegrenzter Bewegung und der Sicherheit aller Verkehrsteilnehmer*innen. Im Vergleich zu den in der Corona-Krise getroffenen Maßnahmen wären die Kosten pro vermiedenem Todesfall deutlich geringer. Dazu könnte der Verkehrsfluss verbessert, die CO2-Emissionen gesenkt werden. Die Corona-Krise sollte der Debatte um mehr Vernunft im Straßenverkehr neuen Schwung verleihen.

Bild: © CleverShuttle

Ride-Pooling-Dienste können einen Beitrag zur Verkehrswende in Städten leisten

Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung gGmbH

Berlin, 16.04.2020. Ride-Pooling-Dienste, die in einigen deutschen Städten auf einer digitalen Plattform Fahrten für mehrere Gäste anbieten, werden zu einem großen Teil von jungen Menschen als „Tür-zu-Tür“-Ergänzung zu Bus und Bahn genutzt. Knapp die Hälfte der Nutzenden mit einem Pkw im Haushalt könnte sich vorstellen, zukünftig auf das eigene Auto zu verzichten. Das sind die Ergebnisse einer Studie, die Forschende des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung (WZB) erstmals auf Basis von Daten eines Anbieters ermitteln konnten. Andreas Knie und Lisa Ruhrort vom WZB fordern, die strengen gesetzlichen Auflagen für diese Dienste zu lockern, damit sie einen stärkeren Beitrag zur Verkehrswende leisten können.

In Deutschland wird intensiv über neue Verkehrsangebote auf digitalen Plattformen wie CleverShuttle, BerlKönig oder Moia diskutiert. Helfen diese sogenannten Ride-Pooling-Dienste, bei denen sich Kund*innen Fahrten mit anderen Menschen teilen, die Zahl der Fahrzeuge und die damit gefahrenen Kilometer und die ausgestoßene Menge an Schadstoffen in den Städten zu reduzieren? Wie werden die Dienste von den Menschen im Vergleich zu anderen Verkehrsmitteln angenommen? Das Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB) bekam als erste öffentliche Forschungseinrichtung Zugang zu Fahrgastdaten eines Anbieters (CleverShuttle) und konnte diese in vier deutschen Großstädten für ein Jahr analysieren. Darüber hinaus befragten die Forschenden über 3.500 Kund*innen des Dienstes zu ihren Fahrgewohnheiten und zur Bewertung des Angebots.

Die Fahrzeuge von CleverShuttle beförderten im Jahr 2019 mehr als 1,8 Millionen Menschen in Berlin, München, Leipzig und Dresden. Anders als bei Fahrten mit dem Taxi oder dem kalifornischen Unternehmen Uber werden bei CleverShuttle bei ungefähr der Hälfte der Fahrten weitere Fahrgäste hinzugebucht, die sich ein Auto teilen. In den Nachtstunden steigt der durchschnittliche Anteil der geteilten Fahrten auf bis zu 65 Prozent.

Andreas Knie und Lisa Ruhrort ermittelten in der Studie, dass rund die Hälfe der Nutzenden von CleverShuttle zwischen 20 und 34 Jahre alt ist und den Dienst mehrmals im Monat bucht. Mehr als 30 Prozent aller Kund*innen besitzen gar keinen Führerschein und 35 Prozent haben keinen Zugriff auf ein privates Fahrzeug. Die Mehrzahl aller Fahrten (ca. 60 Prozent) dient Freizeitzwecken, rund 25 Prozent sind Fahrten zur Arbeit oder haben einen geschäftlichen Anlass. Als Vorteile nennt knapp die Hälfte der Nutzenden den niedrigen Preis und den „Tür zu Tür“-Service. Dass der Transport oft mit anderen Menschen geteilt werden muss, finden knapp 60 Prozent der Befragten „positiv“ oder sogar „sehr positiv“. Ebenfalls die Hälfte der befragten Kund*innen gab an, dass sie Busse und Bahnen genutzt hätten, gäbe es nicht das Angebot des Ride-Poolings. Ca. 10 Prozent hätten statt CleverShuttle den privaten PKW genutzt. Immerhin eine von zehn Fahrten mit dem Anbieter ersetzt also bereits eine Fahrt mit dem eigenen Auto, obwohl die Zahl der Fahrzeuge durch behördliche Auflagen immer noch eng begrenzt ist. Perspektivisch können sich rund 45 Prozent der Befragten mit PKW im Haushalt vorstellen, dass CleverShuttle das eigene Auto ersetzen könnte. „Das Potenzial der Ride-Pooling-Dienste für die Verkehrswende liegt insbesondere darin, dass sie den öffentlichen Verkehr durch einen Tür-zu-Tür-Baustein ergänzen, selbst wenn sie einige Fahrten mit dem ÖPNV ersetzen“, sagt Andreas Knie. Lisa Ruhrort, Co-Autorin der Studie, ergänzt: „Kunden haben durch Ride-Pooling-Dienste mehr Freiheit bei der Wahl der Verkehrsmittel, und es wird insgesamt attraktiver, in der Stadt ohne eigenen PKW zu leben und mobil zu sein.“

Das Forscherteam des WZB empfiehlt, die gesetzlichen Voraussetzungen für Ride-Pooling-Dienste zu lockern. Sie sollen zudem von den Kommunen koordiniert werden. Bislang sind die Angebote nur als Ausnahmen mit starken Beschränkungen zugelassen. Die Dienste benötigen nach Ansicht der Forschenden zudem eine wesentlich höhere Flottenzahl, um die gewünschten Flächen in den Städten angemessen bedienen zu können. Dabei könnten Ride-Pooling-Dienste regulatorisch klar von herkömmlichen Taxis getrennt werden: Zwar zahlen die Kunden maximal zwei Drittel des vergleichbaren Taxifahrpreises, dafür müssen sie aber in der Regel die Fahrt mit anderen Fahrgästen teilen und Umwege in Kauf nehmen. Eine wesentliche Einschränkung für den Dienst ist zudem die vorgeschriebene Rückkehrpflicht: Nach jedem ausgeführten Auftrag müssen die Fahrzeuge wieder zurück in den Betriebssitz, was zu längeren Anfahrts- und Rückkehrwegen ohne Fahrgäste führt. Um Ride-Pooling-Dienste zu unterstützen, so Andreas Knie und Lisa Ruhrort, sollten diese, unter der Maßgabe, dass sie Fahrten mehrerer Fahrgäste bündeln, von der Rückkehrpflicht befreit werden.

Die Studie „Ride-Pooling-Dienste und ihre Bedeutung für den Verkehr. Nachfragemuster und Nutzungsmotive am Beispiel von ‚CleverShuttle‘“ ist als WZB Discussion Paper erschienen.

https://bibliothek.wzb.eu/pdf/2020/iii20-601.pdf

Pressekontakt

Prof. Dr. Andreas Knie
Leiter der Forschungsgruppe Digitale Mobilität und gesellschaftliche Differenzierung https://wzb.eu/de/forschung/digitalisierung-und-gesellschaftlicher-wandel/digitale-mobilitaet (DIMO)
andreas.knie@wzb.eu

Dr. Lisa Ruhrort
Wissenschaftliche Mitarbeiterin der Forschungsgruppe DIMO
lisa.ruhrort@wzb.eu

Dr. Harald Wilkoszewski
Leiter Kommunikation und Pressesprecher
Tel.: 030/25491-509
harald.wilkoszewski@wzb.eu

Herausgeber

Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung gGmbH
Reichpietschufer 50
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Berlin, 26.03.2020. „Um die Verkehrswende in Deutschland zu erreichen, muss die Anzahl der Autos verringert und der öffentliche Personennahverkehr ausgebaut werden. Das setzt viele Kommunen unter Druck, weil sie nicht wissen, wie sie das schaffen sollen“, erklärt Prof. Dr. Andreas Knie vom Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB). Für drei Kommunen sollen deshalb modellhaft Maßnahmenpakete entwickelt werden, die Akteure schulen und beim Erreichen der Ziele unterstützen. Knie erklärt: „Mit diesen Ansätzen wollen wir in diesen Städten 50 Prozent weniger Autos und 50 Prozent weniger gefahrene Kilometer in fünf Jahren erreichen.“ Die Deutsche Bundesstiftung Umwelt (DBU) fördert das Vorhaben fachlich und finanziell mit 120.000 Euro.

Das Problem mit den Autos und dem Gesetz

In der Theorie sei die Verkehrswende in Deutschland leicht: Weniger Autofahrten, mehr öffentlicher Personennahverkehr (ÖPNV) und eine gute Infrastruktur für Radfahrer und Fußgänger. „In der Praxis ist es aber nicht so einfach. Denn unser Rechtsrahmen ist entstanden und entwickelt worden mit dem Willen, das Privat-Kfz zu stärken“, so Knie. „Das macht es insbesondere aus Sicht der Kommunen schwer, Umbaumaßnahmen zu ermöglichen.“ Das nötige Wissen sei vorhanden, es fehle aber häufig an Kompetenzen oder Mitarbeitern, um es umzusetzen.

Modellhaft: Gingst, Drolshagen und Leipzig

„Wir wollen mit dem Projekt ein ganzheitliches Verkehrswendekonzept auf den Weg bringen, das vor allem auch die umweltverträglichsten Verkehrsteilnehmer stärkt, die Fußgänger und Radfahrer“, erläutert Verena Exner, DBU-Referatsleiterin. Für die Kommunen übertragbare Konzepte sollen dazu entwickelt werden. „Für unser Projekt haben wir uns drei sehr unterschiedliche Regionen als Modelle ausgesucht“, so Knie. „Die Gemeinde Gingst mit 1.200 Einwohnern liegt auf Rügen und dient als Beispiel für den ländlichen Raum, Drolshagen/Lennestadt mit 25.000 Einwohnern in Nordrhein-Westfalen für ein größeres Siedlungsgebiet, und die Stadt Leipzig in Sachsen mit 600.000 Einwohnern repräsentiert den Typ einer wachsenden Großstadt.“ Sie stünden vor ähnlichen, aber auch sehr unterschiedlichen Herausforderungen.

Umbaumaßnahmen unterstützen

Ziel des Projektes sei es deswegen, Kommunen bei Umbauarbeiten zu unterstützen und das Verändern des Rechtsrahmens in der Politik anzustoßen. Je nach Region können das zum Beispiel Hilfen beim Erstellen eines Bebauungsplans oder für den Aufbau eines Carsharingsystems für Elektroautos sein, also die organisierte gemeinschaftliche Nutzung von Autos. Für die ausgewählten Modellkommunen werde man ein Verkehrswendebüro einrichten, das kommunale Akteure schulen und beim Umsetzen der Verkehrswende unterstützen will. Durch das Einbinden etwa von Bauämtern, Investoren und Mobilitätsanbietern würden die vorgesehenen Maßnahmen auf die jeweiligen Bedürfnisse der Kommune zugeschnitten. Unterstützt wird das Verkehrswendebüro von der „Allianz Verkehrswende“. Dort engagieren sich Personen und Organisationen, die an Modellvorhaben zur Elektromobilität mitgewirkt haben.

Modellhafter und praxistauglicher Umsetzungsplan

So soll eine bedarfs- und praxistaugliche „Handreichung“ entstehen, die sich hauptsächlich an die Entscheider von Kommunal- und Regionalpolitik richten soll. Es gehe um das Etablieren guter Rahmenbedingungen für das Verringern von individuellem Fahrzeugverkehr generell, das Umstellen auf elektrische Antriebe sowie das Fördern des Fuß- und Fahrradverkehrs und das Modernisieren des ÖPNV durch das Nutzen digitaler Plattformen. Zum Ende des Projekts wolle man einen modellhaften Umsetzungsplan für die Verkehrswende entwickelt haben. Die Arbeiten werden von einem Beirat unterstützt. Diesem Gremium gehören verschiedene Verbände und Personen an, die in den vergangenen Jahren in fünf Bundesländern große Modellvorhaben verantwortet haben. Sprecher sind Raimund Nowak, der Geschäftsführer der Metropolregion Hannover Braunschweig Göttingen Wolfsburg, und Kurt Sigl, Präsident des Bundesverbandes eMobilität. Im Beirat sollen zudem Vorschläge erarbeitet werden, wie die Wirksamkeit staatlicher Förderprogramme erhöht werden kann.

Ansprechpartner bei fachlichen Fragen zum Projekt (AZ 35575): Prof. Dr. Andreas Knie, Tel. 030|254 91 588

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