Schafft euch bitte ab!

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Photo © Stefan Rotter | iStock / Getty Images Plus

Anke Borcherding ist neben ihrer Tätigkeit als Mobilitätsbeauftragte der FU Berlin, Gastautorin der Forschungsgruppe Digitale Mobilität am WZB. Sie beschäftigt sich theoretisch und vor allem praktisch mit Projekten zum Thema Mobilität und ist in der Stadt und auf dem Land immer nur mit dem ÖV, dem Rad und manchmal mit einem Carsharing-Auto unterwegs. Da sammelt sich viel eigene Empirie an.

Schafft euch bitte ab!

Eine Polemik zum Öffentlichen Verkehr und wie er sein sollte

Der Öffentliche Verkehr (ÖV) soll das Rückgrat der Verkehrswende sein oder werden. Aktuell ist er eher die Achillesferse. Die Zustimmung in der Bevölkerung zu Bussen und Bahnen ist dramatisch niedrig. Auf dem Land gibt es viel zu starre Verbindungen und zu wenige Fahrgäste, in der Stadt ist der ÖV oft subjektiv viel zu voll. Daran wird sich auch so schnell nichts ändern. Während der Corona-Pandemie hat der ÖV noch einmal Fahrgäste verloren, vielerorts spielt er nur mehr eine marginale Rolle.

Die Fahrgäste mögen das Maskentragen nicht, haben Angst vor Ansteckung. Das ist derzeit sicher ein Problem, aber der größte Haken des ÖV ist seine mangelhafte Flexibilität. Leere Busse fahren ihren starren Fahrplan ab, Anschlüsse werden nicht erreicht, weil der Bus abgefahren ist, bevor die verspätete Bahn angekommen ist. In den Regionalbahnen ist der Mindestabstand in der Rush Hour wie bei den Sardinen in der Büchse.

Der Fortschritt in der öffentlichen Mobilität ist bekanntlich eine Schnecke.

Um den ÖV-Fahrenden oder Multimodalen oder denen, die den ÖV zwangsläufig nutzen müssen, das Warten auf die Verkehrswende zu erleichtern, gibt’s hier ein paar praktische und einfache Vorschläge:

Der erste Vorschlag: Schafft eure Tarife, Tarifverbünde, Tarifgrenzen, Ticketautomaten, Schwarzfahrkontrollierenden ab und beschäftigt euch mit einfachen Zugängen zu euren Bussen und Bahnen: smart, barrierefrei und preiswert. Bietet keine Tickets an, sondern eine allgemeine Fahrtberechtigung, eine BahnCard 100 für den ÖV, eine ÖV-Card 100, mit dem alle Verkehrsmittel genutzt werden können: einfach einsteigen und fahren, egal wann und wohin und wie oft.

Vielleicht kann eine ÖV-Card 100 mit oder ohne Fernverkehr gebucht werden, vielleicht nur für den regionalen oder lokalen Verkehr – je nach Bedarf, aber Hauptsache einfach zu verstehen, zu buchen und wieder abzuschalten. Die Deutsche Bahn hat vor Jahren Touch & Travel getestet: check in und out mit dem Handy zum Best Price. Das war eine technische Option, um Reisen ohne Kenntnis von Tarifen zu ermöglichen. Sie wurde jedoch wieder abgeschafft. In den Niederlanden ist dieses System eingeführt. In Berlin findet es Jahre später als Test statt. Die Schnecke dreht sich im Kreis.

Der zweite Vorschlag richtet sich an die Macherinnen des ÖV: Wie wäre es, wenn ihr euch für euer Angebot interessieren würdet? Wie wäre es, wenn ihr eure Autos stehenlasst und mit dem ÖV fahrt? Dann bekommt ihr erst ein Gefühl für euer Angebot. Die Fahrpläne werden nämlich immer nur für die anderen gemacht. In den Regionalbussen sitzen Schülerinnen, Rentnerinnen, Touristinnen etc., aber nicht diejenigen, die den ÖV planen und umsetzen.

Wir brauchen einen ÖV, den die Macherinnen selbst nutzen wollen.

Solange der ÖV nicht besser ist als das Auto, wird er nicht das Rückgrat der Verkehrswende sein. Wenn man sich den Zugang zu einem Auto verschafft hat, eröffnet sich die große Freiheit, selbst zu entscheiden, wann es wohin gehen soll – zumindest in den Zeiten, in denen nicht alles zugestaut ist. Nutzt man den ÖV, hat man die große Freiheit zu entscheiden, welchen Bus man nimmt – aber sonntags nur bis 16 Uhr oder gar nicht, nachts leider auch nicht. Eine Garantie, einen Anschluss zu bekommen, gibt es grundsätzlich nicht. Autonomie versus Bevormundung. Wer würde sich da nicht für die Autonomie entscheiden wollen?

Dabei kann sich der ÖV zugänglicher machen, für Kundinnen die Zugangs- und Reisebedingungen vereinfachen und preiswerter gestalten. Der ÖV hätte eine Chance, wenn er sich vom Korsett beim Angebot und bei den Zugängen befreien würde. Wenn er Ballast abwerfen, statt immer neue Kleinigkeiten erfinden würde. Da können auch die digitalen Techniken helfen. Nötig wäre eine konsequente Orientierung an den Kundinnen und nicht am System ÖV. Dann wird das Warten auf die Verkehrswende angenehmer. Sonst kann man ihn auch abschaffen.

Ursprünglich veröffentlicht auf digitalemobilitaet.blog.wzb.eu